Sophie Scholl
möglich. Doch sein Brief vom 17. Juni 1930 hat sich in den Akten des Oberamtes Öhringen erhalten.
Darin bittet Robert Scholl eindringlich, die Pensionskasse zu informieren, dass der Anerkennung seines Ruhegehalts nichts im Wege steht. Er weist darauf hin, dass er »vom ersten Tag meiner Forchtenberger Amtstätigkeit mit einer starken Gegnerschaft zu kämpfen« hatte; er sei vielen zu »fortschrittlich«, anderen zu »eigensinnig« gewesen. Vor allem jedoch spreche für seine Beweisführung, dass »von der Sache« nur wenige gewusst hätten. Ein Bekenntnis »in der Sache« blieb ihm nun aber gegenüber seinem Vorgesetzten nicht erspart: »Ich war in meinem ganzen Leben kein Wüstling, nicht einmal mit Worten und musste durch einen Seitensprung nun eine so schwere Prüfung und Demütigung durchmachen.« Da ist es heraus, verpackt in Selbstmitleid, was für einen Beamten damals keine Privatsache war: Robert Scholl muss während seiner Schultheiß-Amtszeit seiner Ehefrau untreu gewesen sein. Ist damit das Gerücht bestätigt und geklärt, das Ernst Gruele bei den Forchtenbergern umgab?
Wäre die Antwort auf diese Frage »Ja«, heute würde niemand einen Stein werfen; die bürgerliche Moral hat sich gewandelt. Ehe und Familie haben so manche rigorose Tradition hinter sich gelassen, ohne dass die Welt unterging. Doch die Betroffenen im Forchtenberger Drama des Frühjahrs 1930 haben lebenslang geschwiegen. Das ist ihr Recht. Und kein Dokument hat bisher dieses Schweigen aufgehoben.
Damals allerdings, in einer anderen Welt und einer anderen Zeit, wuchsen sich Klagen und Gegenklagen für Robert und Lina Scholl und die Kinder zu einem Drama aus. Als Robert Scholl am 17. Juni 1930 seinem Vorgesetzten jenen Brief schreibt, der ihm nicht leicht gefallen sein kann, beginnt er mit einem Dank, »dass Sie mich in meiner Not nicht auch haben fallen lassen. … In tiefere Not kann selten ein Mensch geraten als ich seit ½ Jahr. …« Doch Robert Scholl hatte seinen Anteil an der vergifteten Atmosphäre, die nun in Forchtenberg mit Händen greifbar wurde.
Mit dem Jahresbeginn, als Schultheiß Scholl und seine Familie nur noch auf Abruf im Rathaus lebten, war die Stimmung ohnehin trübe. Als dann der Kleinkrieg von Klagen und Gegenklagen begann, wurde die Situation vollends unerträglich. Für die Kinder muss es ein Schock gewesen sein. Gestern noch hatten sie den Vater als eine Autoritätsperson erlebt, dessen Wort im Städtchen Gewicht hatte. Jetzt war er ein einsamer Mann, wenn er durch Forchtenberg ging. Den Kindern wird es ähnlich gegangen sein: Sie spürten, dass sie nicht mehr dazu gehörten; dass getuschelt wurde und die Gespräche der Erwachsenen verstummten, wenn sie vorüber gingen.
Die Wohnung im Rathaus war zur Festung geworden, die Familie zur Insel inmitten einer feindlichen Welt. Das ängstigte die Kinder einerseits, und schweißte zugleich die Familie zusammen. Die Eltern machten es vor, wie man sich in der Not gegenseitig stützte. Lina Scholl stand zu ihrem Mann. Aber die Frage drängt sich auf, ob nicht auch Spannungen zwischen den Eltern spürbar wurden und die heile Welt feine Risse bekam, und sei es nur im Unterbewusstsein?
Noch im Dezember 1931 spiegelt ein Brief von Lina Scholl das Ende der Forchtenberger Zeit aus dem Blickwinkel der Familienfestung. Es klingt, als sei es gestern gewesen: »Mit Gottes Hilfe überwinden wir vollends die schändlichen Anschläge, die manche Leute mit uns getrieben haben, um uns vorsätzlich ins Unglück zu stürzen, was ihnen aber nicht gelungen ist.« Schändliche Leute, ins Unglück stürzen: Das genügte für die Kinder, um Gut und Böse eindeutig zu verteilen. Sie wussten, auf welcher Seite sie standen. »Wir stehen geschlossen bei Vater und untereinander, es mag kommen, was will«, schrieb Lina Scholl im Februar 1942 an Sophie Scholl, als Robert Scholl von seiner Mitarbeiterin wegen Anti-Hitler-Sprüchen angezeigt und von der Gestapo verhört wurde. Die Zeiten hatten sich noch einmal geändert, waren wirklich gefährlich geworden. Aber die innere Einstellung, die Haltung der Familie war dieselbe wie einst in Forchtenberg: Wir Scholls halten zusammen, und wenn die Welt voll Teufel wär.
Parallel zu den Auseinandersetzungen vor Gericht eskalierte die Situation im Gemeinderat. Die Protokolle der Sitzungen zwischen Januar und Mai 1930 lesen sich wie ein Lehrbuch – jede Seite fühlt sich missverstanden, ausgenutzt. Am 7. Januar geht es noch friedlich zu: Robert Scholl,
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