Sophie Scholl
der umgehend Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl seines Nachfolgers eingelegt hatte, nimmt diesen zurück. Der Gemeinderat beschließt, einen jungen Verwaltungsmann anzustellen, damit der Schultheiß nach zehn Amtsjahren erstmals Urlaub nehmen, »damit er sich eine neue Heimat und eine Existenz suchen kann«. Und Robert Scholl kann bis zum 1. Juni in der Rathauswohnung bleiben, obwohl seine Amtszeit am 8. März abläuft. Am 14. Januar gibt es im Gemeinderat Streit über den »jungen Verwaltungsmann«. Robert Scholls Vorschlag wird mit sechs gegen fünf Stimmen abgelehnt; daraufhin erklärt er, »unter solchen Umständen auf den ihm versprochenen Urlaub zu verzichten«. Im Februar kommt es zwischen dem Schultheiß Scholl und den Gemeinderäten zum erbitterten Streit über die Artikel im »Hohenloher Boten«.
Am 9. März 1930 schied der Ortsvorsteher Stadtschultheiß Robert Scholl aus seinem Amt und übergab die Rathauskanzlei an seinen Nachfolger. Das Forchtenberger Klima wurde für die Familie noch eisiger. Doch sie konnte die Rathauswohnung noch nicht verlassen. Erst jetzt hatte Robert Scholl Zeit, sich um eine neue Arbeit zu kümmern. Am 28. Mai gibt der Gemeinderat mit großer Mehrheit zu Protokoll, »falls Stadtschultheiß a.D. Scholl die von ihm innegehabte Dienstwohnung auf 1. Juni 1930 nicht geräumt hat, wird gegen denselben beim Amtgericht Oehringen die Räumungs-Klage erhoben«. Dazu kommt es dann allerdings nicht, obwohl laut Gemeinderatsprotokoll vom 15. Juni 1930 der Stadtschultheiß a.D. erst am »13. Juni ds. Js. die Ortsvorsteherdienstwohnung im Rathaus geräumt hat«. So wissen wir nun, wann die Scholl-Familie Forchtenberg verließ. Für Eltern wie Kinder ging ein Alptraum zu Ende, der gut ein halbes Jahr gewährt hatte und die Erinnerung an viele schöne Jahre verdunkelte.
LUDWIGSBURG
Juni 1930 bis März 1932
Robert Scholl hatte eine Anstellung als Geschäftsführer beim »Malerbund« in Stuttgart, einer Genossenschaft der Maler und Lackierer, gefunden. Zum Wohnen entschied man sich für Ludwigsburg, das Garnisonsstädtchen zwölf Kilometer nördlich von der Landeshauptstadt, wo sich im Frühjahr 1915 Lina Müller und Robert Scholl im Lazarett begegnet waren. Für Robert Scholl, der sich neben seiner neuen Arbeit abends an der Verwaltungsakademie weiterbildete, war der »Malerbund« jedoch von Anbeginn nur eine Zwischenstation. Trotzdem wählte er – wie auch bei den folgenden Umzügen – eine Wohnung, die selbst für seine große Familie zu groß war. Die Miete überstieg seine Einkommensverhältnisse.
Stand dahinter die Entschlossenheit, nie mehr zurückzukehren in die Enge seiner Kindheit und Jugend im kleinbäuerlichen Milieu von Steinbrück? In Robert Scholls Brief an das Oberamt in Öhringen, in dem er seinen »Seitensprung« eingesteht, liest sich das so: »Dürfte ich Sie bitten, für baldigen Bericht an die Pensionskasse besorgt zu sein? Ich musste, um aus Forchtenberg wegzukommen, eine teure Wohnung nehmen. Außerdem muss ich meinen beiden Mädels, die die Künzelsauer Realschule besucht haben, hier englischen Privatunterricht geben lassen, soll ich sie nicht wieder in die Volksschule zurückgeben. Deshalb warte ich mit Bangen auf die Zahlungen der Pensionskasse.«
Die »beiden Mädels« sind Inge und Liesl; dass sie weiterhin eine höhere Schulbildung erhalten sollen, darin war sich Robert Scholl, für den die Mittlere Reife der Schlüssel zum gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet hatte, mit seiner Frau einig. Die Konsequenzen der zu großen und zu teuren Wohnung am Wilhelmplatz 7 (heute Schillerplatz 7) musste vor allem Lina Scholl tragen. Noch einmal aus ihrem Brief vom Dezember 1931 aus Ludwigsburg: »Hier arbeite ich alles allein, es gibt wohl viel Arbeit mit 7 Zimmern. Ich habe auch vermietet an eine Lehrerin. Die Kinder müssen tüchtig lernen, sie können mir wenig helfen. Ich muss mich selbst wundern, dass ich dauernd so arbeiten kann. Ich wasche auch allein mit Hilfe eines Manglers.« Viel zu arbeiten, das war die ehemalige Diakonisse gewohnt. Und hatte Lina Müller ihrem zukünftigen Ehemann nicht als ironische Drohung vor der Hochzeit prophezeit: »Sparen kann ich, vielleicht Dir nur zu arg«?
Die Kinder mussten sich in neue Schulen einleben; Inge und Liesl in die Realschule, Hans ins Gymnasium, und Sophie Scholl ging am 18. Juni 1930 erstmals in die Evangelische Mädchenvolksschule, Klasse 3b. Das war eine neue Erfahrung, denn in der »Zwergschule« von
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