Sophie Scholl
im Haar zu spüren oder den Regen auf der Haut, den Gesang der Vögel und das Rauschen der Pappeln zu hören und von keinem Menschen gestört werden – allein sein.
Viel zu oft hatte Sophie Scholl den Wechsel der Natur vom Frühling zum Sommer, vom Herbst zum Winter sehen und riechen und genießen können, um ihn je zu vergessen. Sie hat es so tief in sich aufgenommen, dass sie ihr Leben lang davon zehrte und die Sehnsucht nach einer engen, spürbaren Verbindung zur Natur unauslöschlich blieb. Besonders das Gefühl, als kleiner Mensch unter dem Schutz der großen Bäume zu stehen, hat sich dem Kind eingeprägt. Und die zarten und kleinen Blumen auf den Wiesen waren ein Wunder, einfach, weil sie da waren, ohne Anspruch, ohne Rechtfertigung.
Es wird immer wieder Aussagen von Sophie Scholl geben, die belegen, was jetzt nur in Bruchstücken angedeutet werden kann: das Glücksgefühl beim Ansehen einer Blume oder dem Umarmen eines Baumes, der Wunsch, aus der großen Stadt fortzuziehen, Bäuerin zu werden oder in den Bergen eine neue Heimat zu finden. Was auffällt: Nie deutet sie auch nur an, wo die Wurzeln dafür liegen. Ein Erinnerst-Du-Dich-Noch, einen Blick zurück in die Forchtenberger Kindheit gibt es in den vielen Briefen von Sophie Scholl nicht. Wir wissen nicht, was diese Jahre ihr bedeuteten. Ein Zufall? Eher nicht: Sie war im Kern eine sehr verschwiegene Person. Für eine weitere Vermutung gibt es eine Spur. Die neunzehnjährige Sophie Scholl schreibt im Juni 1940 ihrem Freund Fritz Hartnagel: »Und eines habe ich mir abgewöhnt: das Träumen von Dingen, die mir angenehm sind. Das lähmt.« Vielleicht gehörte zu dieser Entschiedenheit, das Trauma von Forchtenberg nicht übermächtig werden zu lassen; Abstand zu den großen und widersprüchlichen Gefühlen zu halten, die mit der Vertreibung aus dem Kindheitsparadies verbunden waren. Für Sophie Scholl war der Abschied im Juni 1930 endgültig. Im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern ist sie nie mehr zurückgekommen nach Forchtenberg.
Ab November 1931 wussten die Scholls, dass wieder ein Umzug angesagt war, aber diesmal aus eigenem Bestreben. Robert Scholl hatte eine Anzeige entdeckt, in der das Ulmer Steuerbüro Dr. Albert Mayer einen Teilhaber suchte. Seine Bewerbung als Wirtschaftsprüfer und Steuerberater hatte Erfolg. »Bei uns geht es Gott Lob recht gut. Dass wir bald nach Ulm ziehen, werden Sie gehört haben«, steht in Lina Scholls Brief vom 14. Dezember 1931, »wir hoffen, dass dies unser letzter Umzug ist.« Sie verbirgt ihren Stolz nicht, dass aus dem erzwungenen Abgang Gutes entsprungen ist: »Meinem lieben Mann gefällts sehr gut, er ist auch schon gut bekannt dort …« Und sieht sich durchaus nicht im Schatten ihres Mannes: »Ich bin auch nicht unbekannt dort.«
Die Kinder hatten sich inzwischen in Ludwigsburg eingelebt: »Hans ist jetzt unermüdlich tätig in seiner freien Zeit und sägt wunderschöne Sachen aus, die Inge frei aufzeichnet. Neulich sagte Inges Lehrer zu mir, Inge sei seine beste und liebste Schülerin, und übe einen guten Einfluss auf ihre ganze Klasse aus, wie es vorher nicht gewesen sei.« Typisch für die Älteste, die sich zu Hause stets für die jüngeren Geschwister verantwortlich fühlte. Auch bei der jüngsten Tochter ging alles seinen ruhigen Gang: »Sofie ist wohl und wird nächsten Monat ihre Aufnahmeprüfung in die Realschule machen.« Natürlich wird die Mutter allen Kindern gerecht: »Werner ist lustig, sie heißen ihn in seiner Jungschar den ›Krachlampf‹ (Lachkrampf), weil er soviel lachen muss. Lisel ist etwas stiller, sie singt gerne.«
Die Prüfung bestand Sophie Scholl im Januar 1932 problemlos. Im März verläßt die Familie Ludwigsburg und bezieht in der Kernerstraße 29, ein Neubaugebiet im Norden Ulms, eine große Wohnung mit Terrasse. Für die Mutter wird ein Garten in Neu-Ulm, südlich der Donau, gepachtet. Damit ist auch räumlich endgültig der Schlussstrich zu Forchtenberg gezogen. Am 14. April 1932 ist Sophie Scholls erster Schultag in der Klasse Ib der Mädchenoberrealschule in der Steingasse, nahe beim Ulmer Münster. Im Mai wird sie ihren elften Geburtstag feiern.
DIE KRISE DER REPUBLIK – AUFTRITT ADOLF HITLER
September 1930 bis April 1932
Die Wahlbeteiligung war die bisher höchste in der Weimarer Republik. Zweiundachtzig Prozent der Wahlberechtigten gaben am 14. September 1930 ihre Stimme ab, um einen neuen Reichstag zu wählen. Als gegen drei Uhr morgens das Ergebnis
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