Sophie Scholl
»Eine schwere Enttäuschung brachte die Nichtwiederwahl des Stadtschultheißen Scholl am letzten Sonntag dem Kochertal und seiner weitesten Umgebung. Vergeblich sucht man nach einem stichhaltigen Grund, aus dem einem so tüchtigen Ortsvorsteher die Existenz gekündigt werden konnte. Es ist das alte Lied von menschlicher Undankbarkeit, von menschlichem Hass und Neid, das uns die Geschichte von Siegfried bis Bismarck singt.« Es war die Rede von »Hingabe bis zur Selbstentäußerung«; Robert Scholl habe »jetzt den in Forchtenberg üblichen Lohn erhalten, die Kreuzigung«. Das war arg dick aufgetragen. Am 8. Januar meldete sich die »Schriftleitung« und erklärte, der anonyme Einsender sei »ein possenhafter Aufschneider« und bekannt durch die »Wahlagitation« für Robert Scholl. Tatsächlich bestehe die »Hingabe« Scholls in seiner provozierenden »geistigen Überhebung«; er habe nichts als seine »verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan«, und zwar zu einem »ganz ansehnlichen Gehalt«.
Für Robert Scholl ist das, was sich um diese Wahl herum ereignet, keine Provinz-Posse, die er selbstbewusst ignorieren kann. Aus seiner Sicht geht es um seine Ehre. Er beantragt einen Sühnetermin mit dem Artikel-Schreiber des »Hohenloher Boten« vom 8. Januar, den er zu kennen glaubte. Als Schultheiß führt er mit eigener Hand im Sühnebuch der Stadt aus, warum er sich von dessen Angaben beleidigt fühlt und beim Sühnetermin eine Rücknahme erwartet. Als Termin, mit dem der nächste Schritt – eine Anklage vor Gericht – vermieden werden soll, setzt er den 15. Januar 1930 im Rathaus zu Forchtenberg.
Am 15. Januar schreibt das Oberamt Öhringen dem Stadtschultheiß Scholl ein Dienstzeugnis. Er habe in »arbeitsreichen und mühevollen Zeiten« die Gemeinde »zufriedenstellend und tatkräftig geführt«; er sei stets bemüht gewesen, das »Bestmögliche zu erreichen und die Gemeinde vorwärtszubringen«. Robert Scholl könne »auch für andere Stellen im öffentlichen oder privaten Verwaltungsdienst bestens empfohlen werden«. Ebenfalls an diesem 15. Januar, um 17 Uhr, protokolliert der noch amtierende Schultheiß Scholl im Rathaus zu Forchtenberg in eigener Sache, der Beklagte sei – wie zuvor angekündigt – nicht erschienen. Robert Scholl, der Kläger, hatte schon zum Sühne-Termin einen Rechtsanwalt aus Öhringen bestellt. Er reichte anschließend eine Beleidigungsklage ein und gewann vor Gericht. Doch der Preis, den er mit seiner Familie für diese Genugtuung zahlte, war hoch, sehr hoch.
Wer ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein, hatte Robert Scholl im Wahlkampf seinen Gegnern zugerufen. Nun zogen sie ihrerseits vor Gericht und brachten ans Tageslicht, was bisher nur geflüstert und als Gerücht die Runde gemacht hatte. Denn Robert Scholl war nicht ohne Fehl, wie sich aus dem Schreiben seines Vorgesetzten, Regierungsrat im Oberamt Öhringen, vom 20. Juni 1930 herauslesen lässt: »Das Oberamt ist der Auffassung, dass die sittlichen Verfehlungen Scholls als solche nicht der Anlass für die Nichtwiederwahl waren.« Das Schreiben ging an die Pensionskasse in Stuttgart und klärte den bürokratischen Sachverhalt: Zwar seien Robert Scholl »sittliche Verfehlungen« nachgewiesen worden, doch sie waren nicht der Grund für seine Wahlniederlage. Andernfalls wäre ihm das Ruhegehalt gestrichen worden, eine Katastrophe, die mit diesem amtlichen Schreiben abgewendet war.
Nach dem positiven Bescheid zugunsten von Robert Scholls Pensionsanspruch kann sich der Regierungsrat ein persönliches Urteil nicht verkneifen, und das stellt den bis dahin Unbescholtenen in ein getrübtes Licht: »Diese ganze Angelegenheit wurde erst an die Öffentlichkeit gezerrt, als verschiedene Forchtenberger Bürger wegen Beleidigung des Stadtvorstands Scholl von dem hiesigen Amtsgericht bestraft worden waren. Sie wollten dem Mann jetzt heimbezahlen und ihr Mütchen an ihm kühlen; ungeschickt genug freilich war es von ihm, dass er, der kein sauberes Brusttuch hatte, die Beleidigungsklage anstrengte.« Im Klartext: Die Anklage wegen »sittlicher Verfehlungen« war nicht unbegründet.
Der Regierungsrat stützte sich auf die Strafakten des Landgerichts in Schwäbisch Hall, die seinem Schreiben an die Pensionskasse beigelegt waren – und auf einen persönlichen Brief des Beschuldigten vom 17. Juni 1930. Die Akten sind in den Kriegswirren verloren gegangen. Eine genaue Rekonstruktion der Klage und der Aussage von Robert Scholl ist deshalb nicht
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