Sophie Scholl
Die beiden haben die Huber-Vorlesung vorzeitig verlassen, um pünktlich bei der nächsten Vorlesung in der Nervenklinik zu sein. Traute Lafrenz ist leicht irritiert, als sie den Koffer sieht. Im Hinblick auf den gemeinsamen Ulm-Besuch am Wochenende fragt sie Sophie dem Sinn nach: »Macht ihr schon blau?« Sie erhält keine wirkliche Antwort. Man ist in Eile, verabredet sich für den Nachmittag. Als letzte Worte Sophie Scholls, bevor die beiden Paare sich trennen, hat Traute Lafrenz in Erinnerung behalten: »Ja, die Skistiefel, wenn ich heute Nachmittag nicht zu Hause bin, die Skistiefel, die stehen hinten auf der Ablage, die kannst Du dann einfach mitnehmen. Ja.«
Für das, was jetzt im Gebäude folgt, müssen sich Hans und Sophie Scholl abgesprochen haben. Er trägt Koffer und Aktentasche, Sophie nimmt immer neue Packen der Flugblätter, legt sie an den Türen der Hörsäle aus oder verstreut sie. Hans Scholl passt auf. Bis zum Vorlesungsende um 11 Uhr haben sie eine Chance, nicht gesehen zu werden. Es ist geschafft. Beide gehen zum Hinterausgang Amalienstraße. Dort legt Hans Scholl noch einen Packen auf die Treppe. Aber immer noch sind eine Menge Flugblätter im Koffer. Es muss eine spontane Idee gewesen sein, gemeinsames Einverständnis im Bruchteil von Sekunden. Hans und Sophie Scholl machen kehrt, laufen in den ersten Stock, legen weitere Stöße von Flugblättern aus und nehmen eilig die Treppe zum zweiten Stock.
Und dort, an der linken Seite der marmornen Brüstung, von wo aus man in die Eingangshalle schauen kann, wirft Sophie Scholl eine Handvoll Flugblätter hinunter in den Lichthof. Der Hausschlosser Jakob Schmid, der zufällig im Erdgeschoss auftaucht, sieht, wie die Flugblätter durch den Lichthof nach unten flattern. Die Werfenden sieht er nicht. Er vermutet sie im zweiten Stock und läuft nach oben. Als er dort auftaucht, schüttet gerade Hans Scholl den Rest der Flugblätter über die Brüstung. Schmid geht auf ihn zu und sagt: »Ich verhafte Sie!« Hans Scholl erwidert, es sei eine Unverschämtheit. Doch wie Sophie Scholl es im Verhör sagt: »Mein Bruder und ich gingen widerspruchslos mit diesem Mann.«
Und wieder Fragen: Warum sind die beiden vom Ausgang zurück in den ersten und zweiten Stock, nachdem ihr höchst riskantes Unternehmen unbemerkt beendet war? Warum haben sie mit dem Abwurf der Flugblätter in den Lichthof die Möglichkeit, entdeckt zu werden, noch gesteigert? War es wirklich »Übermut« oder »Dummheit« und nicht ein öffentliches Fanal, das Sophie und Hans Scholl bewusst inszenierten? Warum sind sie ohne Widerstand dem Hausschlosser gefolgt? Sophie und Hans Scholl waren gewandt und kräftig, sie hätten flüchten und im quirligen Schwabing untertauchen können. Wäre es nicht einen Versuch wert gewesen? Wurde am Morgen zwischen Sophie und Hans beim Tee das Für und Wider erörtert? Die Idee, die Flugblätter heimlich in der Universität auszulegen, hatte Hans Scholl in den Tagen zuvor tatsächlich schon mit Willi Graf und Alexander Schmorell besprochen. Die Drei hatten allerdings keine konkreten Termine festgelegt.
Wie stark war der Druck, unter dem Sophie und Hans Scholl handelten und die Flugblätter los sein wollten, weil sie sich von der Gestapo beobachtet fühlten? Wie bei allen Flugblättern zuvor hatte Hans Scholl auch das sechste Flugblatt per Post an sich selbst adressiert. Im Gegensatz zu den vorherigen war es nicht angekommen. War es der Gestapo in die Hände gefallen und er damit unter weiteren Verdacht geraten? Und wenn die Flugblätter schnellstens aus der Wohnung verschwinden mussten: Warum nicht noch ein riskantes Unternehmen wagen? Es war doch bisher alles gut gegangen. Alles Fragen, die sich an diesem Wendepunkt der Ereignisse aufdrängen.
Während die Geschwister in das Zimmer vom Syndikus der Universität gebracht werden, schließt der Hausverwalter auf Anordnung alle Türen der Universität. Weder Studenten noch Professoren dürfen das Gebäude verlassen. Man wollte aller Flugblätter habhaft werden. Inzwischen ist Robert Mohr, der Leiter der Münchner Gestapo-Sonderkommission, die nach dem Auftauchen der Flugblätter und Parolen im Januar gebildet worden war, informiert worden. Der Kriminalobersekretär wird zu Hans und Sophie Scholl geführt, die sich durch ihren Studentenausweis legitimieren, und lässt beide mit einem Auto ins Wittelsbacher Palais bringen. Dort, Brienner Straße 50, befand sich das Hausgefängnis der Gestapo-Leitstelle München. Vom
Weitere Kostenlose Bücher