Sophie Scholl
infrage stehenden Flugblätter auch nur das Geringste zu tun zu haben. Ich sehe selber ein, dass eine Reihe von Verdachtsmomenten gegen meinen Bruder und mich sprechen und dass dann, wenn die richtigen Täter nicht gefunden werden sollten, dieser Verdacht unter Umständen an uns haften bleiben wird.«
Die Vorwärts-Strategie scheint aufzugehen. Gegen 18 Uhr beendet Robert Mohr das Verhör und läßt Sophie Scholl zurück in die Zelle bringen mit der Andeutung, sie könne wohl noch heute Abend mit ihrem Bruder wie vorgesehen nach Ulm fahren. Im Gefängnistrakt wird das Abendessen ausgeteilt, als plötzlich der Anruf kommt, dass für Sophie und Hans Scholl das Verhör in einer halben Stunde weitergeht.
Gleich nach der Verhaftung hatten Kriminalbeamte die Wohnung in der Franz-Joseph-Straße durchsucht. Sie fanden laut Protokoll »eine Anzahl Briefschaften, Notizen und Aufzeichnungen … im Zimmer von Frl. Scholl wurde eine Reiseschreibmaschine sichergestellt«. Auf ihrem Schreibtisch lag ein Heft mit »einer großen Anzahl von Anschriften von in Augsburg und München wohnenden Personen … Außerdem wurden im Zimmer bzw. im Schreibtisch von Frl. Scholl 11 Päckchen Patronen für Armeepistole 08 mit je 16 Stück und ein weiteres Päckchen mit 10 Stück gefunden«. Die Pistole dazu fanden die Ermittler im Schreibtisch von Hans Scholl, mit fünf Patronen geladen; außerdem hunderte von 8-Pfennig-Briefmarken, »postfrisch«. Geprüft wurden alle Funde erst im Wittelsbacher Palais: »Wegen des umfangreichen beschlagnahmten Materials konnte an Ort und Stelle keine Sichtung vorgenommen werden.« Erst nach Ende des Verhörs bekam Robert Mohr die sich häufenden Beweise vorgelegt, die Sophie und Hans Scholls überzeugende Geschichte ins Wanken brachten.
Gegen 19 Uhr beginnt im Wittelsbacher Palais das zweite, getrennte Verhör für die Geschwister. (In den Protokollen der Vernehmungen, die als verloren galten und erst 1989 in den Archiven der DDR entdeckt wurden, gibt es keine Zeitangaben.) Wieder wird Sophie Scholl von Robert Mohr befragt. Immer größer wird der Radius seiner Fragen; immer kleiner Sophie Scholls Manövrierraum, Widersprüche aufzulösen oder plausibel zu machen. Namen tauchen auf – Alexander Schmorell, Willi Graf und seine Schwester Anneliese. In was für einem Verhältnis stand Sophie Scholl zu ihnen? Sie muss bei jeder Frage blitzschnell überlegen, in welche Falle sie gelockt werden soll. Stunde um Stunde geht es tiefer in die Nacht. Für Sophie Scholl wird die Welt draußen längst versunken sein.
Ein Kraftakt an Konzentration. Nur für Minuten abzuschlaffen, der Müdigkeit nachgeben, könnte verhängnisvolle Folgen haben. Nicht nur für sie, nicht nur für ihren Bruder. Immer klarer wird Sophie Scholl während des Verhörs geworden sein, wie schwer es ist, die Freunde und Freundinnen aus der Sache herauszuhalten. Es ist der kleine Münchner Kosmos, der ihre ganze Aufmerksamkeit verlangt. Die andere Welt, Ulm und die Eltern, Inge und Otl, muss in diesen nächtlichen Stunden sehr fern gewesen sein. Ihr Denken war gefordert und ihr kühler Gleichmut wie nie zuvor. Gefühle durfte es jetzt nicht geben.
Während sie in der abgeschotteten Welt des Verhörzimmers total auf sich selbst gestellt war, ging für die Menschen, die ihr am nächsten waren, das Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Nur Otl Aicher kennt Bruchstücke, weil er kurz in den Strudel mit hinein gerissen wird. Auch er verbringt diese Nacht in einer Zelle im Wittelsbacher Palais. Wie verabredet, traf er am Donnerstag, dem 18. Februar, gegen 11 Uhr in der Franz-Joseph-Straße ein, um – nach seiner Aussage – die Nachricht weiterzugeben, das Buch »Machtstaat und Utopie« sei vergriffen. Niemand machte auf. Aicher setzte sich für eine Weile auf eine Bank in der Leopoldstraße. Als er ein zweites Mal klingelte, empfing ihn die Gestapo und brachte auch ihn ins Wittelsbacher Palais. Am nächsten Morgen pocht Otl Aicher erfolgreich darauf, dass er als Soldat ausschließlich der militärischen Gerichtsbarkeit unterstehe. Er bekommt seine Sachen ausgehändigt und kann gehen.
In der Scholl-Wohnung am Ulmer Münsterplatz ist der 18. Februar 1943 ein Tag wie jeder andere. Dass ein Polizist klingelt und sich nach Briefen von Hans und Sophie erkundigt, macht niemanden besorgt. Inge Scholl erklärte später, der Beamte sei kurz und taktvoll durch die Wohnung gegangen, kein Schrank sei geöffnet worden. Man kannte doch diesen Staat, wozu weiter
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