Sophie Scholl
Uhr in der Franz-Joseph-Straße zusammen. Dann verabschiedet sich Gisela Schertling; sie zieht es in ihr eigenes Zimmer in der Lindwurmstraße. Vorher hat sich Sophie Scholl mit ihr für den nächsten Mittag in der Franz-Joseph-Straße verabredet. Sie will morgen ausschlafen und die Huber-Vorlesung um 10 Uhr schwänzen, aber dann mit Gisela essen gehen.
Später am Abend klingelt bei Hans und Sophie das Telefon. Es ist Otl Aicher. Aus der Erinnerung hat er die folgende Version von seinem Anruf und seiner Woche in München gegeben: »Mitte Februar kam ich nach München, wohnte im Hause von Professor Muth und erhielt, noch ehe ich mit Hans und Sophie Kontakt aufnehmen konnte, einen Anruf aus Ulm, ich solle Hans darüber verständigen, das Buch ›Machtstaat und Utopie‹ sei vergriffen. Ich rief Hans an, sagte ihm, dass ich ihm eine wichtige Mitteilung machen müsse. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag auf 11 Uhr in seiner Wohnung Franz-Joseph-Straße 13.« (Vinke: Das kurze Leben der Sophie Scholl). Der erste Teil dieser Aussage – er habe vor diesem Anruf die Geschwister in München nicht gesehen – ist zweifelsfrei widerlegt. Dass Aicher noch wenige Stunden vor dem Telefonat am 17. Februar mit Sophie Scholl zusammen war, wird von ihr selbst am nächsten Tag im Gestapo-Verhör zu Protokoll gegeben. Wie steht es um den zweiten Teil, die Aussage über den Inhalt des nächtlichen Telefongesprächs?
Otl Aichers Anruf bei Hans und Sophie ist der Brückenkopf zu einer Geschichte, die sich am Nachmittag dieses Tages in Ulm abspielt. Hans Hirzel, der am 25. Januar von Sophie Scholl im elterlichen Garten in Ulm die Flugblätter von Sophie Scholl übernahm und sechshundert davon mit Hilfe seiner Schwester Susanne in Stuttgarter Briefkästen beförderte, wird am 17. Februar in Ulm zum Gestapo-Verhör vorgeladen. Der Achtzehnjährige hatte leichtsinnigerweise zwei Hitlerjungen von einer Flugblatt-Aktion erzählt, und die hatten Anzeige erstattet. Hirzel redet sich beim Verhör heraus. Die Gestapo geht der Spur nicht weiter nach, Hirzel wird als »Psychopath« eingestuft. Doch das weiß er nicht, als er die Gestapo verlässt – mit den schlimmsten Befürchtungen, denn beim Verhör ist der Name »Sophie Scholl« gefallen. Da er am nächsten Tag eine Abiturarbeit schreiben muss, informiert Hans Hirzel sofort Inge Scholl in der Wohnung am Münsterplatz. Er beschwört sie, umgehend nach München zu fahren. Sie soll ihre Geschwister warnen, beziehungsweise ihnen das vereinbarte Code-Wort vermitteln, das Buch »Machtstaat und Utopie« sei vergriffen. Inge Scholl hat die Idee, Wilhelm Geyer mit der verschlüsselten Botschaft nach München zu schicken, und erfährt von Frau Geyer, dass ihr Mann in Stuttgart ist. Da sie Hans und Sophie nicht erreicht, ruft Inge Scholl bei Carl Muth an. Sie bekommt dort Otl Aicher an den Apparat und gibt ihm Hans Hirzels Mitteilung durch. Dies ist die Vorgeschichte zu Otl Aichers Telefonat am späten Abend in der Franz-Joseph-Straße.
Ist es möglich, dass Aicher – dem nach eigener Aussage Sophie Scholl im Lazarett von Bad Hall um die Weihnachtszeit »alles dargelegt« hatte – in seinem Telefonat mit Hans Scholl das Code-Wort nicht weitergegeben, sondern sich nur für den nächsten Vormittag verabredet hat? War ihm wirklich nicht bewusst, dass eine verschlüsselte Botschaft gerade für den Notfall vorbereitet wird? Wenn es darauf ankommt, schnellstmöglich, aber unverfänglich, »Gefahr-im-Verzug« melden zu können, zum Beispiel per Telefon? Es gibt keine Antworten. Aber die Frage darf gestellt werden, auch wenn sie ihrerseits eine neue Vermutung auslöst: Ob das Code-Wort – wenn es am Abend des 17. Februar von Otl Aicher weitergegeben wurde – Sophie und Hans Scholl so beeinflusste, dass sie einen Plan für den nächsten Morgen fassten, der ihnen sonst nicht in den Sinn gekommen wäre.
18. Februar, Donnerstag – Am Wochenende wollen die Geschwister mit Traute Lafrenz nach Ulm fahren. Aber heute schlafen sie aus bis gegen 9 Uhr, wie geplant. Dann kocht Sophie Scholl einen Tee, und sie füllen einen rotbraunen Koffer und eine Aktentasche mit den restlichen etwa 1500 Exemplaren des letzten, sechsten Flugblatts und ungefähr 50 Exemplaren des vorletzten vom Januar. Ungefähr um 10 Uhr 30 verlassen Sophie und Hans Scholl ihre Wohnung und gehen mit Koffer und Aktentasche in Richtung Universität. Kaum haben sie das Gebäude betreten, kommen ihnen Traute Lafrenz und Willi Graf entgegen.
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