Sophie Scholl
Augenblick ihrer Entdeckung im zweiten Stock durch den Hausschlosser bis zum Eintreffen im Gefängnis, als sie in verschiedene Zellen gebracht werden, sind die Geschwister ununterbrochen zusammen. Sie konnten sich für das zu erwartende Verhör in den Grundaussagen absprechen. Und vor allem entscheiden: Leugnen oder ein Geständnis ablegen.
Im Gefängnis wird Sophie Scholl von Else Gebel empfangen, mit der sie auch die Zelle teilt. Die Fünfunddreißigjährige war eine politische Gefangene, wie ihr Bruder seit einem Jahr inhaftiert, ohne Aussicht auf einen Prozess. Im Wittelsbacher Palais nimmt sie die Aufnahmeprozedur für die weiblichen Häftlinge vor, weil die Gestapo keine Beamtinnen in ihren Reihen hat. Sophie Scholl ruht sich in der Zelle auf ihrem Bett aus, bevor sie gegen 15 Uhr zum Verhör abgeholt wird. »Nichts zugeben, wofür es keine Beweise gibt«, hatte Else Gebel, ein mütterlich-resoluter Typ, ihr mit auf den Weg gegeben.
Robert Mohr, der Sophie Scholl vernimmt, ist ein erfahrener Polizeibeamter und überzeugter Nationalsozialist, im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten. Er erlebt eine ruhige junge Frau, die eloquent und mit großer Sicherheit darauf besteht, mit den Flugblättern absolut nichts zu tun zu haben. Sophie Scholl zeigt Verständnis, dass dieser Verdacht aufkommen kann. Aber sie hat für alle Fragen eine schlüssige Erklärung. Ihre Geschichte: Gestern Abend hatte sie sich mit ihrer Freundin Gisela Schertling für heute zum Mittagessen verabredet. Dann war ihr spontan die Idee gekommen, heute um 11 Uhr 28 nach Ulm zu fahren, was ohnehin für das Wochenende geplant war. Sie wusste, den gleichen Zug würde Otl Aicher, »der Freund oder Verehrer meiner Schwester Inge«, nehmen. Auf dem Weg zum Bahnhof sei sie in die Universität gegangen, um nach der Huber-Vorlesung ihrer Freundin Gisela abzusagen. Ihr Bruder Hans sei mitgekommen, um bei seiner Bank noch Geld für die Fahrkarte abzuheben, ihr eigenes reichte nicht mehr. Und schließlich hatten sie den leeren Koffer dabei, um in Ulm frische Wäsche einzupacken.
Nein, sie habe keine Flugblätter in ihrem Koffer transportiert. Kurz vor 11 Uhr wollte sie ihrem Bruder noch das Psychologische Institut im zweiten Stock zeigen, wo sie öfters Vorlesungen besuche. Da lag auf dem Geländer ein Stoß Flugblätter: »Im Vorbeigehen habe ich den auf dem Geländer aufgeschichteten Flugblättern mit der Hand einen Stoß gegeben, so dass diese in den Lichthof hinunterflatterten. Mein Bruder wurde auf diese Flugblätter erst aufmerksam, als sie bereits im Lichthof in der Luft flatterten. Ich sehe nun ein, dass ich durch mein Verhalten eine Dummheit gemacht habe, die ich aber nicht mehr ändern kann.« Robert Mohr fragte nach, fand aber nirgends eine Lücke, die zu einem Widerspruch führte. Und das Wichtigste: In der gleichzeitigen, aber getrennten Vernehmung erzählte Hans Scholl die gleiche Geschichte.
Sophie Scholl hatte für den Vernehmer zwei »Köder« ausgelegt. Es war ein leichtes, Gisela Schertling und Otl Aicher zu befragen. Beide würden – ahnungslos, aber mit bestem Gewissen – Sophie Scholls Aussagen bestätigen. Außerdem war das Verhör ein psychologisches Kräftemessen. Je standfester und selbstbewusster Sophie Scholl auftrat, desto größer ihre Chance, den gewieften Kriminalbeamten von ihrer Glaubwürdigkeit zu überzeugen. Es wird ihn beeindruckt haben, dass Sophie Scholl in dieser kritischen Situation kein Hehl aus ihrer Abneigung gegen den Nationalsozialismus machte. Nachdem sie ihren Lebenslauf und die Etappen als Führerin im Bund Deutscher Mädel skizziert hatte, kam sie auf ihre »weltanschauliche Entfremdung vom BDM und damit der NSDAP« zu sprechen: »… als hauptsächlichsten Grund für meine Abneigung gegen die Bewegung möchte ich anführen, dass nach meiner Auffassung die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt wird, die meinem inneren Wesen widerspricht. Zusammenfassend möchte ich die Erklärung abgeben, dass ich für meine Person mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben will.« Das war kalkuliertes Risiko, schließlich stand Sophie Scholl mit ihrem Bruder in dem dringenden Verdacht, hochverräterische Flugblätter verteilt zu haben.
Als sei sie Verteidigung und Anklage in einem, zieht Sophie Scholl nach knapp drei Stunden ein selbstbewusstes Resümee: »Trotz ernster Vorhaltungen und Ermahnungen muss ich nach wie vor bestreiten, sowohl mit der Herstellung als auch mit der Verbreitung der
Weitere Kostenlose Bücher