Sophie Scholl
Kirchgang und schreibt ihm schon vorweg, »am Sonntag dürfen wir liegen bleiben«.
Am 21. Januar 1917 verrät Lina Müllers Brief, dass ihre Liebe schon Frucht trägt: »Mir gehts Gott Lob ganz gut, ich bin gar nicht müde und merke nichts von der kostbaren Gabe, die ich in mir trage. Gott erhalte uns Drei in unserm Glück und segne uns zeitlich und ewig.« Die Schwangere muss nicht mehr den Haushalt des Schwiegervaters führen, sondern darf sich bei ihren Eltern verwöhnen lassen. Ihren Mann beruhigt sie Anfang Februar: »Mir gehts ganz gut, es ist alles in Ordnung. Ausruhen kann ich reichlich, morgens darf ich nicht zuerst aufstehen, das leidet Mutter absolut nicht.« Der Tag vergeht ihr etwas zu langsam, ein wenig Beschäftigung ist erwünscht: »Nachher gehe ich in die Stadt, Leberwürste zu holen auf morgen Mittag. Ich habe immer Appetit, dies reine Gefühl ist mir fast neu … Wir sind täglich dankbar, dass wir so satt werden dürfen in dieser Zeit des Mangels …« Sie weiß: Für viele andere Menschen in Deutschland ist der »Rübenwinter« noch nicht vorbei.
Der Ehemann kennt seine Frau. Als es ihr Mitte März nicht so gut geht, schreibt er ihr: »Mein liebes, gutes Linäle! Deine Erkrankung macht mich recht besorgt. Wenns nur nicht schlimm wird. Lass Dich jetzt auch einmal von andern pflegen.« Umgekehrt spricht aus den Briefen seiner Frau die Sorge, dass ihr Mann permanent mehr als seine Pflicht tut. »Du arbeitest zu lang abends, das ist nicht gut für Dich«, heißt es im April 1917. Gegen Ende des Monats hat Lina Scholl fünf Nächte nacheinander den gleichen Traum: »Eine kurze Zeit hatte ich Dich und Deine ganze Liebe, dann war alles vorüber, ich konnte Dich nicht mehr erreichen, so sehr ich mich anstrengte. Ich glaube, dass unser Fernsein daran schuld ist.«
Am 27. Mai 1917 ist ein Treffen der Eheleute in Stuttgart geplant: »Die Zeit bis Donnerstag ist nur noch kurz. Ich freue mich sehr, wieder einige Stunden bei Dir sein zu können. Es gibt auch noch manches zu besprechen.« Als sich die beiden am Donnerstag, dem 31. Mai, tatsächlich in Stuttgart trafen, wussten sie, dass sich zwei Tage später ihr Leben tiefgreifend ändern würde.
Auf den 2. Juni 1917 ist die Urkunde ausgestellt, in der Robert Scholl zum »Schultheißenamtsverweser« der Gemeinde Ingersheim/Altenmünster an der Jagst, Oberamt Crailsheim, eingesetzt wird. (Im Jahre 1940 wurde sie in die Stadt Crailsheim eingemeindet.) Eine Übergangslösung, nachdem die Verwaltung den bisherigen Schultheiß, auch Ortsvorsteher und ab 1930 generell Bürgermeister genannt, wegen Unfähigkeit in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und sich an den kompetenten Verwaltungspraktikanten Robert Scholl erinnert hatte. Der wird keine Sekunde gezögert haben, diese Chance für eine Zukunft jenseits des Krieges zu ergreifen, während immer noch Soldaten die Felder und Hügel Europas mit ihrem Blut tränkten. Seine zukünftigen Vorgesetzten hatten offensichtlich von der Militärverwaltung in Ludwigsburg befriedigende Auskünfte erhalten, als sie Robert Scholl für die zivile Verwaltung anforderten: Der Sechsundzwanzigjährige war im Lazarett in den Bereichen Organisation und Verwaltung tätig, intelligent, voller Arbeitseifer und längst kein Anfänger mehr. »Ich freue mich so, wenn diese Trennungszeit einmal wirklich zu Ende geht«, schreibt Lina Scholl ihrem Mann am 6. Juni 1917. Sie hatte allen Grund dazu.
INGERSHEIM
Juni 1917 bis Dezember 1919
Am 11. August 1917 wurde aus dem Zweier-Bund eine Familie: In der ersten gemeinsamen Wohnung in Ingersheim, Am Schollenberg 6, im ersten Stock, brachte Lina Scholl eine Tochter zur Welt. Sie wurde auf den Namen Inge getauft. Dass noch viele Geschwister folgen sollten, war für die Eltern fest eingeplant, zumal das berufliche Provisorium sich bald als dauerhaft erwies. Als am 12. September die reguläre Wahl des Ortsvorstehers anstand, war Robert Scholl der einzige Kandidat und wurde mit 121 von 122 Stimmen gewählt. Der Sechsundzwanzigjährige hatte in den wenigen Monaten seit Juni die Bevölkerung überzeugt, für die kleine Schwaben-Gemeinde der Richtige an der Spitze zu sein.
Politik in Ingersheim im dritten Jahr des großen Krieges bestand darin, den Menschen das Überleben zu sichern. Die Getreideernte lag im Sommer 1917 rund fünfzig Prozent unter dem Vorkriegsniveau. Außer an Nahrungsmitteln fehlte es an Kleidern und Schuhen. Die Industrie-Produktion brach zusammen, weil der Nachschub an Rohstoffen
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