Sophie Scholl
übertragen. Wilhelm II. brauchte bis zum Abend, um endlich in Richtung Niederlande aufzubrechen. Am nächsten Tag, dem 10. November 1918, unterzeichneten die deutschen Abgesandten in Paris einen Waffenstillstandsvertrag. Im September 1918 hatte der deutsche Historiker Friedrich Meinecke an einen Freund geschrieben: »Wir hätten im Laufe des Krieges wiederholt den Verständigungsfrieden haben können, wenn nicht die maßlosen Ansprüche des alldeutsch-militaristisch-konservativen Konzerns ihn unmöglich gemacht hätten. Es ist furchtbar und tragisch, dass dieser Konzern erst durch die Niederlage des ganzen Staates gebrochen werden konnte.« Der kleine Verwaltungspraktikant und Sanitäter Robert Scholl hatte solche Einsichten schon im Februar 1917, als er seiner Frau mitteilte, die deutsche Niederlage sei so unausweichlich wie begrüßenswert.
Doch selbst als endlich die Waffen schwiegen, gehörte Robert Scholl mit seiner Einsicht über die verdiente deutsche Niederlage zu einer Minderheit. Der November 1918 war noch nicht ganz herum, da schrieb der achtunddreißigjährige Major im Oberkommando des Heeres, Ludwig Beck, nach Hause: »Im schwersten Augenblick des Krieges ist uns die … von langer Hand vorbereitete Revolution in den Rücken gefallen.« Ludwig Beck ließ Jahre später als Verschwörer gegen Adolf Hitler und das NS-Regime am Abend des 20. Juli 1944 sein Leben. In diesen trüben Novembertagen und noch viele Jahre danach fühlte er wie der Gefreite Adolf Hitler, der die Nachricht vom Ende des Krieges als »die entsetzlichste Gewissheit« seines Lebens empfand und im Lazarett einen Weinkrampf bekam.
13,2 Millionen deutscher Männer waren zwischen 1914 und 1918 zum Kriegsdienst eingezogen worden. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde getötet (2,4 Millionen) oder dauerhaft verwundet (6,3 Millionen). Insgesamt starben im Ersten Weltkrieg knapp 9 Millionen Soldaten. Wer die Niederlage auch nur als Möglichkeit in den Blick nahm, konnte der Frage »Wofür alle diese Toten, all dieses Leid?« nicht ausweichen. So viel sinnloses Sterben! Das war kaum auszuhalten. Ludwig Beck, Adolf Hitler und Millionen von Soldaten, die überlebt hatten, weigerten sich, diese Frage auch nur zuzulassen. Mit der Parole »Im Felde unbesiegt« kehrten sie in die Heimat zurück; voller Hass auf die demokratischen Politiker, die der kämpfenden Truppe in den Rücken gefallen seien und das Vaterland damit um Sieg und Ehre gebracht hätten. Die »Legende vom Dolchstoß«, in Wahrheit eine Lüge, wurde zum deutschen Mythos: Die Militärs, die ihre Mannschaften immerzu in »letzte Schlachten«, in Tod und Niederlage geführt hatten, waren die Helden. Die Zivilisten, die nach vier Kriegsjahren am Verhandlungstisch die Waffen zum Schweigen brachten, wurden als »Novemberverbrecher« gebrandmarkt.
Die Bürger forderten nur eins von der neuen Regierung: Wiederherstellung der Ordnung im Land. Reichskanzler Friedrich Ebert, Demokrat durch und durch, wusste: Wenn ihm das nicht gelang, war die parlamentarische Demokratie in Deutschland tot, bevor sie je richtig geatmet hatte. So verbündete er sich zum Schutz des neuen Staates mit jenen, die die Republik verachteten: den Führern des Heeres und den sogenannten Freikorps, die – mit Waffen und Legalität ausgestattet – zwischen November 1918 und Frühjahr 1919 gegen Spartakisten und Streikende, Utopisten und Revolutionäre einen brutalen Terror-Kampf führten. Wobei die Radikalen ihrerseits teilweise vor Gewalt nicht zurückschreckten.
Der Staat, der aus den blutigen Wirren einer Niederlage hervorging, vom Start weg mit einer Lügen-Hypothek belastet, ist als Weimarer Republik in die Geschichte eingegangen. Im Rückblick als »Demokratie ohne Demokraten« gescholten, als bloßer Vorläufer von Führerstaat und Nazi-Diktatur abgewertet, wird allzu leicht übersehen, was überzeugte Demokraten an Eigenständigem zustande brachten – allen widrigen Umständen zum Trotz.
Es ist wert, daran zu erinnern: dass am 19. Januar 1919 eine ordentliche Wahl zur Nationalversammlung stattfand, in der die demokratischen Parteien – als stärkste die SPD – eine Mehrheit hatten; dass die Abgeordneten, in Weimar versammelt, im Februar den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten wählten. Dann rang diese Nationalversammlung über Wochen und Monate hinweg darum, der neuen Republik eine gute Verfassung zu geben und die Einheit des Staates zu bewahren. Der Kraftakt gelang. Die Verfassung wurde
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