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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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durch Jericho in der Nähe des Prinz-Edward-Docks entgegenkamen, trat ich als artiges Mädchen beiseite und blieb auch nicht stehen, um sie anzugaffen, sondern fuhr in meiner Tätigkeit fort. Niemand grüßte mich, denn ich war die Tochter eines Nobody. Der Lehrling eines Teerkochers konnte sich an der Zisterne beim Wasserholen vordrängen und mir dabei auf die Zehen treten – die anderen Frauen schüttelten nur den Kopf und machten gehässige Bemerkungen, als sei es meine Schuld, daß ich im Weg stand.
    Um auf Papa zurückzukommen: Er wäre ganz nach Ihrem Geschmack gewesen, zumindest, was seine Geschichten anbelangt. »Die
Negre Baguido Bago
kam letzte Nacht vorbei«, hätte er mir beispielsweise erzählt. »Ihre nackten Rahen sahen aus wie die Knochen eines Skeletts. Die gesamte Takelage hing in Fetzen. Ich habe sogar Lady Archimand persönlich gesehen, Sophie«, hätte er gesagt, während ich zitternd auf seinem Knie saß. »Mitten auf dem Deck hockte sie und hatte ihre Angelschnur ausgeworfen. Sie fischte nach Sternen! Du erinnerst dich doch an Lady Archimand, Sophie? Die Frau mit den Spinnweben überall auf ihrem Kleid.«
    Liebe Leser, kennen Sie High Haven? Ich bin sicher, daß Sie schon mal in einer klaren Herbstnacht bei abnehmendem Mond einen winzigen Lichtschimmer bemerkt haben, wenn Sie von der Lambeth Bridge nach oben schauen, um ein großes Schiff vorbeifliegen zu sehen – dort oben, in nordnordwestlicher Richtung. Dieser Flecken aus poliertem Metall, das ist High Haven, die fliegende Insel, wo die Männer auf den Schiffswerften schuften und die Frauen in den Segelschuppen das kostbare Tuch zuschneiden und nähen, in dem sich später die Winde des Raums fangen. Mein Papa war Mr. Jacob Farthing, Nachtwächter im Ostdock, und unser Haus war die Nachtwächterhütte nahe der St.-Radigunds-Werft – zwischen dem Bürogebäude eines Holzhändlers und einem Lagerhaus voller Bohnen und Getreide gelegen. Sie sind der Meinung, High Haven sei einer von diesen langweiligen Handelsplätzen, ein heilloses Tohuwabohu mit Menschen, die nur Plackerei und Lärm kennen? Sicher haben Sie dann nur die Docks gesehen, wo Sie sich mit sturen Beamten herumärgern mußten, die Ihnen möglicherweise dann auch noch die falsche Kai-Nummer angegeben haben oder Ihnen mitteilten, daß Ihr Gepäck irrtümlich zum Mond geschickt wurde. Aber so ist die Insel überhaupt nicht. Haven hat wie jede Gemeinde eine gesellschaftliche Oberschicht, Menschen von Rang und Namen; sie wohnen in ihren Glasdach-Häusern auf Hanover Heights.
    »Du hältst dich fern von dort, Sophie. Sie würden sofort einen Konstabler rufen, wenn sie dich dort antreffen.«
    »Aber warum denn?«
    Papa beugte sich in seinem Sessel vor, als wolle er mir eine Ohrfeige geben, und ich zuckte zurück. »Du tust das, was man dir sagt, junge Dame«, knurrte er.
    Also blieb ich in meinem Armenviertel. Ich glaube, es war tatsächlich die schäbigste Gegend auf ganz Haven. Die Hütte war dunkel und immer schmutzig. Sie werden denken, es war überhaupt schwer, dort etwas sauberzuhalten, wenn man das Wasser jedesmal erst holen mußte und von der Werft immer Staub und schmutziges Stroh in die Stube wehten. Papa tat keinen Handschlag, um mir zu helfen. Wenn er nicht gerade schlief, saß er in seinem Sessel und gab mir Anweisungen, warnte mich vor den Gefahren auf den Welten oder klagte über sein schweres Leben, während ich mich am Herd abmühte, aus Resten und Schalen unsere kärglichen Mahlzeiten zu bereiten.
    Ein paar von Papas Geschichten waren großartig. Als ich noch klein war, pflegte er mir immer von dem blinden Hafenmeister zu erzählen, der trotzdem wie ein Pilot den Flux ›lesen‹ und jedes Schiff an seiner Bugwelle erkennen konnte; von der goldenen Caravelle des Don Caldero mit ihrem Hottentotten-Bootsmann, der den Sternenwind mit seiner Flöte herbeirufen konnte. Damals glaubte ich alles, was er erzählte. Ich wußte noch nichts von der Macht des schwarzen Gummis, den ich einmal pro Woche in einem Fetzen Papier aus der Apotheke holen mußte. Papa schlürfte ihn auf Teelöffeln voll Gin – und binnen einer Minute beschrieb er mir haarklein die Vögel Greif auf Uranus. »Ihre Schnäbel können Stahlplatten durchlöchern. Wo sie hintreten, reißen ihre Krallen den Boden auf!«
    Und ich machte mich auf dem löchrigen Teppich so klein wie möglich und drängte mich gegen sein Schienbein, überzeugt davon, daß diese fürchterlichen Biester jeden Moment durch die Wand

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