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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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brechen würden. 0 ja, Papa erzählte mir Geschichten, so viele Geschichten. Aber nie die eine, die wichtig gewesen wäre. Eine wahre nämlich. Die Wahrheit überhaupt. Niemals – bis zum Schluß.
    Papa und seine Geschichten – das war alles, was ich damals kannte, Geschichten über Schiffe und Reisen. Und mehr wollte ich auch nicht wissen. Ich haßte es, morgens aufzuwachen und ein Schiff zu sehen, das über Nacht angedockt hatte und nun wie ein dunkler drohender Turm über unserer Hütte aufragte. Ich haßte alle Schiffe. Ein Schiff war es gewesen, das mir meine Mama weggenommen hatte. Wenn ich aus dem Haus mußte, ging ich immer mit gesenktem Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet. Wie fürchtete ich mich davor, mich zu verirren und über die Jericho-Brücke gehen zu müssen, wo der leere Raum wie ein tiefer schwarzer, mit silbernen Sternen gesprenkelter See durch die Risse im Fußweg schimmerte.
    Zudem waren da noch Benny Stropes und seine Gang, die sich ständig in der Gosse prügelten oder sich untereinander ihre Schuhe ausliehen, um auf den Piers herumzuklettern, die in die unendliche Leere hinausragten. Hatten sie mich erst mal in die Enge getrieben, würden sie versuchen, mir mein Häubchen zu stehlen.
    Gewöhnlich drückte ich mich am Geländer entlang und huschte unter die Treppenaufgänge. Aber sobald Bennys kleiner Bruder Tib, der immer an seiner Seite war, mich entdeckte, stieß er ein triumphierendes Geheul aus. Meist riefen dann alle im Chor: »Sophie ist ein Bastard! Sophie ist ein Bastard!« – und ich nahm die Beine in die Hand und rannte davon, so schnell ich konnte. Aber sie hetzten hinter mir her und warfen nach mir. Sie waren Jungs und konnten tun, was sie wollten. Sie hatten nicht die Sorgen, die ich hatte. Jungs machen sich nie Sorgen um irgendwas – außer um ihr Ansehen in den Augen der anderen. ›Werftratten‹, schimpfte Papa sie und befahl mir barsch, von ihnen keine Notiz zu nehmen – obwohl sie auch hinter ihm hergewesen wären, hätten sie ihn je bei Tageslicht angetroffen. Wie elend ich mich wegen der Kerle gefühlt habe! Wie hatte ich das nur zulassen können?
    Dabei sei ich doch noch gut dran gewesen, werden Sie sagen. Ja, lieber Leser, Sie haben recht. Im Gegensatz zu anderen hatte ich ein Dach über dem Kopf, einen Vater, der noch lebte, und Bohnen im Topf. Da wäre sogar noch ein kleines Einkommen gewesen, wenn mein Vater das Geld nicht immer auf dem Heimweg ›verloren‹ hätte. Ich war eben jung und unchristlich. Da vergißt man schon mal, dankbar zu sein.
    Erst viel später lernte ich die Tröstungen der Religion kennen. Ich hatte nie eine Bibel gesehen, weil Papa keine im Haus hatte. Die Bibel war etwas für die Methodisten und die Heilsarmee, die die Kingdom Hall in der Marley Street betrieben und jeden Sonntag mit ihren Hörnern und Tambourinen durch die Docks marschierten. Papa fluchte auf sie und jeden Halfpenny, den irgendwelche Idioten ihnen zusteckten.
Mors est certa,
war seine Devise, und der Tod drohte überall im weiten Universum, wohin man auch ging.
    Ich habe Bilder von den Göttern der Hindus gesehen – mit ihren tausend Händen und einem Schwert in jeder. Ich glaube, einer von ihnen war es, der mich als kleines Mädchen beherrschte. Tausend Ängste durchbebten mich. Nein, ich hatte nicht nur Angst vor Benny Stropes, ich hatte Angst vor allem und jedem – vor den derben Werftarbeitern, die ihren Tabak kauten, vor dem Schreibgehilfen, der mir aus dem Büro des Holzkaufmanns zuwinkte, vor den Tagedieben, die ständig vor der Tür des
Kormoran
herumlungerten und hämische Bemerkungen über jeden Passanten machten, vor den Hafenschlampen mit ihren zimtfarbenen Haaren und Gesichtern so glasig wie schwimmende Eisschollen. Jedes andere arme Kind in High Haven lebte auf der Straße, kaum daß es laufen konnte. Man mußte nur aus dem Fenster schauen, um sie zu sehen, Mädchen wie auch Jungs in alten geflickten Kleidern und pechverschmierten Hauben, die im Tauwerk der Hafenboote herumturnten. Aber wie Sie sich bestimmt denken können, ließ ich es mir nicht zur Gewohnheit werden, aus dem Fenster zu schauen.
    Nur ein einziges Mal setzte ich einen Fuß auf ein Schiff – damals, als ich einen Gemeindeausflug hinüber zum Mare Sanctorum machte, dem Meer der Heiligen. Ich war felsenfest davon überzeugt, ich würde unbemerkt über Bord gehen und in die tiefe Dunkelheit stürzen. Matrosen fanden, wie Papa behauptete, häufiger die steifgefrorenen Leichen kleiner

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