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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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Federn ausrupfen.
    Plötzlich bemerkten wir unter uns eine Person, die auf einer Riesenhenne ritt. Es war Signor Pontorbo, und auch er hatte uns gesehen. Er riß sich die Mütze vom Kopf und grüßte uns auf italienisch. Der Wind trug seine Stimme zu uns hinauf. Gaston gab einen unwirschen Laut von sich, schubste mich von seinem Schoß, sprang vom Felsen und flog davon.
    »Gaston! Gaston!« rief ich hinter ihm her und schlug mir vor Verzweiflung mit den Fäusten auf die Schenkel. »Gaston, komm sofort zurück und bring mich hinunter.«
    Aber mein Begleiter ließ mich im Stich.
    Ich schaute zu Signor Pontorbo hinunter. Es ärgerte mich plötzlich, daß er mich in einer solchen Zwangslage überraschte.
    Er schlug die Zügel gegen seinen Stiefelschaft. »Dieser Gauner! Ich werde ihn mir vornehmen!« rief er wütend, obwohl Gaston schon längst zwischen den Klippen verschwunden war.
    »Keine Angst, Signor Pontorbo, ich schaffe es schon hinunter. Es ist nicht so steil.« Tatsächlich war der Abstieg ziemlich steil, aber nicht unmöglich, doch ein Sturz wäre keineswegs angenehm gewesen.
    »Wenn Sie herunterkommen können,
signorina,
kann ich auch hinaufkommen«, antwortete der junge Mann galant. Er war schon von seinem Vogel abgesprungen und wollte seine Worte wahrmachen.
    »Ach, bitte, Signor Pontorbo, tun Sie das nicht!«
    Er sagte, es mache ihm keine Mühe, und stieg mit dem Tornister auf dem Rücken herauf. Sein Reitvogel gackerte unglücklich hinter ihm her.
    Der Mann war sehr stark, soviel kann ich sagen, und fürchtete sich nicht vor physischen Anstrengungen. Ich rief ihm ein paar Anweisungen zu, während er aufstieg – und fragte mich ganz plötzlich, ehe er den Gipfel erreichte, weshalb er mich unbedingt zu beeindrucken versuchte.
    Zugegeben, ich war beeindruckt. »Gut gemacht, Signor!« rief ich und klopfte ihm den Staub von Brust und Armen. »Welch eine Kletterpartie!«
    »Welch ein Ausblick!« rief er, trotz der kalten Luft schwitzend.
    Er stand dicht am Abgrund und sah sich um, wobei er die Augen mit der Hand abschirmte. Vermutlich sah er, daß wir beide nur zwei winzige Milben im Innern einer großen Schlucht waren, einer alten Wunde in der Haut des Planeten – daß wir uns hoch oben in der Luft befanden, und ringsum war alles braun und orange und staubig, die Klippen an allen Seiten zerklüftet und durchsetzt von Spalten und Höhlen. Selbst die Ranken waren bräunlich, und nirgends war ein grünes Blatt zu finden. Die Stille ringsum hallte uns laut in den Ohren. Und nirgendwo ein Anzeichen von Leben!
    »Welch ein Ausblick«, wiederholte er. »Welch eine rauhe und – verzeihen Sie den Ausdruck, Miss Clare –welch eine wilde Schönheit!« Und dabei pendelten seine Blicke ständig zwischen der Aussicht und meinem Gesicht hin und her. Er atmete immer noch schwer. Mir schien, er bewegte sich gezwungen, als habe ihn irgend etwas frustriert und geärgert. Doch sein Gesichtsausdruck blieb nichtssagend, ließ nicht erkennen, was hinter seiner Stirn vorging, verriet nicht, warum er mich so anstarrte.
    »Sehen Sie doch, man kann von hier aus die Eisenbahn sehen«, sagte ich und deutete nach Norden, wo die Klippen abfielen.
    Er trat dichter an mich heran. »Dieser Silberstreifen dort?
O cieli magnanimi«,
murmelte er gedankenverloren.
    »Sie ist fünfzig Meilen lang«, erklärte ich ihm. »Die Züge bringen Wagenladungen voll Diamanten hinunter nach Coin Brut. Bruder Jude sagt immer, für jeden Yard Geleise hat ein armer Bergmann sein Leben lassen müssen.«
    »Welcher Berg ist das?« fragte Signor Pontorbo plötzlich und faßte meinen Arm, um meinen Augen die Richtung zu weisen. Er stand jetzt dicht hinter mir, hatte die andere Hand auf meine rechte Schulter gelegt und schaute mir über die linke. Seine Vertraulichkeit überraschte mich. »Ja, der dort. Ist das der Mont Royal?«
    Ich brachte die Antwort kaum über die Lippen, wie er da so hinter mir stand, so stark und nah. Bis jetzt war mir nicht klar gewesen, daß dies einen solchen Gefühlsaufruhr in mir verursachen konnte. »O nein, Sir«, sagte ich, »der Mont Royal ist dort drüben.« Dabei drehte ich mich um, duckte mich und versuchte, seine Hände abzustreifen.
    Einen seltsamen Augenblick lang dächte ich, er würde sich nicht bewegen, würde stehenbleiben und mich nicht vom Klippenrand zurücktreten lassen. Doch dann wandte er sich um und schaute an meinem ausgestreckten Arm entlang – irgendwie ungeduldig, als habe er, weil er sich nicht an dem Ort

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