Sophies Kurs
er wieder über seine undankbare Tochter zu jammern und klagte, ich hätte kein Vertrauen zu ihm – was nicht stimmte. Zumindest vertraute ich ihm insoweit, daß er allen anderen immer das Leben so schwer wie möglich machte – bis zum letzten Augenblick. Ich ging zur Treppe und rief nach Bruno.
Hastig kam er herunter. Ich sah, daß er gegen seinen Willen doch eingeschlafen war. »Junger Herr!« rief Papa, als er in die Stube trat. »Junger Mann, ich habe den Brief!«
»Was meint er?« fragte Bruno. »Ist er in Ordnung?«
»Papa, das ist doch Signor Pontorbo.« Erst jetzt merkte ich, daß ich ihn Bruno genannt hatte – als ob das in diesem Irrenhaus noch eine Rolle spielte! »Signor Pontorbo wird sich um deinen Brief kümmern, während ich uns allen eine schöne Suppe koche.«
»Die Dose«, beharrte Papa ungeduldig. »In der Dose. Ihr denkt alle, ihr könntet mich beiseite schieben. Aber ich weiß, wo er ist ...«
Ich öffnete den Speisenschrank, um nachzusehen, was ich kochen konnte. Er enthielt einen Karton Colman's Senfpulver und ein paar Kartoffeln, die schon keimten.
»Hinter der Uhr«, erklärte ich Bruno. »Er sagt, er hätte dort eine Dose versteckt.« Ich selbst konnte mich nicht daran erinnern, ob dort wirklich etwas war oder nicht. Ich glaube, ich habe dort nie nachgeschaut.
»Sich nach Jupiter davonmachen ...«, murmelte Papa abschätzig.
»Hier ist die Dose.« Bruno zog sie hinter der Uhr hervor. Es war eine flache schwarze Blechdose, ähnlich einer Zigarettendose. Ich hatte sie noch nie gesehen.
»Nun, öffnen Sie sie, sehen Sie nach«, forderte Papa ihn auf und lehnte sich gefährlich weit aus seinem Sessel.
»Ist da ein Brief drin?« fragte ich und schaute in dem anderen Schrank nach etwas Eßbarem.
»So ist es,
alora,
aber nur ein Notizzettel«, bestätigte Bruno, während Papa rief: »Seht ihr? Jetzt glaubt ihr mir. Meine Augen mögen zwar schlecht sein, nicht aber mein Verstand ...«
»Zeig es mir«, sagte ich zu Bruno.
Es war ein dünnes Blatt Papier, von einem Notizblock abgerissen. Ich habe es immer noch, es liegt vor mir, während ich dies schreibe. Es trägt eine ungeübte Schüler-Schrift und wurde mit Bleistift beschrieben. Manche Buchstaben sind schon ziemlich verwischt.
»Steht da nicht etwas über sie?« wandte Papa sich an Bruno, als sei ich lediglich ein Posten auf einem Lieferschein.
»Auf dem Zettel steht: ›Mrs. Clare bittet Euch, das Baby zu behalten & Gebt ihr ein Heim & Erzählt nichts davon den Behörden. Gott Segne Euch für Ihre gütige und christliche Seele. Tun Sie bitte Ihre Pflicht. Der Name des Mädchens ist Sophrona.‹«
Ich las es den beiden laut vor. Dabei dachte ich an Mrs. Rose und ihre Streichholzdose, mit der sie die Spinnen rettete. Mir brannten Tränen in den Augen. »War das in dem Korb?« fragte ich.
»Ich habe es dir doch gesagt«, rief Papa triumphierend, obwohl er genau das nie getan hatte.
»Und auch der Ring?«
Er runzelte die Stirn. »Ich hätte ihn verkaufen sollen«, murmelte er. »Das habe ich immer gesagt. Du hast geweint, und ich brachte dich ins 1 Mus und galt dir einen Löffel von meiner Suppe, und du - du hast sie gegessen. Immer wieder habe ich überlegt, wem ich dich geben könnte, aber da ...« er grunzte mißmutig, »... da gab es nur die Kirche und die Marktfrauen - und die Hafenweiber, nicht besser als deine Mutter ...«
»Was hast du vorhin von meiner Mutter gesagt?« fragte ich scharf. »Über ihren Namen?«
»Sie hieß Clare. Es war ihr mittlerer Name. Sie benannten sie nach Mutters Schwester ...«
Ich mußte mich am Tisch festhalten, als ob plötzlich jegliche Schwerkraft aus der Stube gewichen wäre. »Deine Schwester! Sie war deine Schwester!«
»Nein, Sophie - nein, nein. Du hörst nie zu«, protestierte er schwach. »Nach der Schwester
deiner Mutter.
Ich sage dir ...«
Aber ich hatte meine Antwort.
Auch Bruno schien darüber zufrieden. Er sah mich an, als sei er nun völlig rehabilitiert. Ich setzte mich an den Tisch. Percy strich herbei und streckte sich neben meinen Füßen aus. Nach und nach offenbarte Papa die ganze Geschichte - und sie stand auf so gläsernen Füßen, daß ein bloßer Hauch sie hätte zerspringen lassen.
Sie wurden in London geboren, als Kinder eines Schneiders in Whitechapel - er und eine Schwester: Molly Clare. Er kam nach High Haven herauf, um sein Glück zu machen, wie das alle jungen Burschen versuchen. Als das Venus-Fieber in der Stadt grassierte und die Eltern hinwegraffte,
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