Sophies Kurs
kehrte der junge Jacob nach Hause zurück und mußte feststellen, daß Molly jeden Tag von den verschiedensten Männern besucht wurde. »Wie sonst soll ich meine Miete bezahlen?« fragte sie ihn. Aber er schämte sich so sehr für sie und für seine eigene Armut, daß er zurück nach Haven floh, wo er sich schwor, den Ort nie mehr zu verlassen und sie und ihr Schicksal aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Und damit zog er sich gleichzeitig vor der ganzen menschlichen Rasse zurück.
Ich betrachtete das alte Blatt Papier in meinen Händen. Was für ein schrecklicher Schock mußte ich für ihn gewesen sein, ein Fluch, eine Verhöhnung.
»Hast du ihr nie geschrieben?« fragte ich.
Er zog ein finsteres Gesicht und schüttelte die Fäuste. »Die Pest über sie und all ihre Kerle.«
Doch ich kannte ihn und seinen verdammten Stolz. Er wollte damit sagen, daß er Kappi nur anheuerte, um den Schriftverkehr zu erledigen. Keiner sollte wissen, daß er von London heraufgekommen war und dort eine Schwester zurückgelassen hatte.
Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. Da war aber noch etwas, das ihn beschäftigte, obwohl er es nur schwer zugeben konnte. »Ich nehme an, du hast sie in London gesehen, Sophie, nicht wahr?«
»Nein – Onkel Jacob. Ich bin ihr nie begegnet«, antwortete ich und dachte schon, sein Erinnerungsvermögen ließe wieder nach. Und dann begriff ich plötzlich, daß er als Gefangener der sich selbst auferlegten Isolation von ihrem Tod nie erfahren hatte. »Nein«, wiederholte ich und schaute zu, wie ihm der Mohnsaft-Rausch erneut in die fiebrigen Augen kroch. »Nein, Papa«, flüsterte ich.
Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, ihm immer noch nicht verziehen zu haben, was aber nicht stimmte. Ich hatte ihm längst verziehen, und zwar dort, wo ich ihm noch verzeihen konnte – in meinem Herzen.
Er öffnete nie mehr seine Augen, und den Mund nur noch, um zu atmen – bis er kurz nach Mitternacht für immer dahinging.
Manchmal denke ich, daß er sich nur noch an das Leben geklammert hatte, um mir diese letzte Geschichte zu erzählen, die er für mich noch übrigbehalten hatte.
KAPITEL XVIII
Ein Unglück trifft die
Giaconda
Niemand kam zur Beerdigung außer Kappi und den alten Frauen, die die Segel nähten und aus ihrer Teilnahme an den Hafen-Beerdigungen ein Geschäft gemacht hatten. Bruno bestand darauf, Papa mit eigenen Händen aufzubahren. Meine Trauer machte mich hilflos, und ich war ihm daher für seine Hilfe sehr dankbar. Offenbar schien er genau zu wissen, wie man mit einem Leichnam umgehen mußte, und darüber war ich froh.
Wir versammelten uns am Kopf des St.-George-Piers. Die Frauen sangen Lieder, die sich wie Klagehymnen anhörten. Ich mußte dabei an den Kaiser vom Mars denken und hielt meine Lippen geschlossen. Ich fragte mich, warum ich nicht weinen konnte. Ich fühlte mich nur schlaff und innerlich ausgedörrt. Bruno stand dicht neben mir. Er wollte meine Hand nehmen, aber ich verweigerte sie ihm.
Über und unter uns glänzten die Sterne am Himmel. Wir standen dort und schauten zu, wie Papa, eingenäht in seine schäbigen Decken, jenseits aller Straßen der Lebenden seinen letzten Weg einschlug und die weite langsame Wanderung in Richtung Sonne antrat. Die Gelehrten sagen, wir alle würden ursprünglich der Sonne entstammen. Die Saat des Lebens sei von einer Feuerzunge in den Kosmos hinausgeschleudert worden. Also kehren wir auch zu ihr zurück, wenn wir dahinscheiden, um wieder zu Asche zu verbrennen. Und unsere Asche wird, wie ich annehme, am Ende wie alles andere auch vom Hunger Gottes verzehrt werden.
Ich wünschte, wir hätten Papa mit uns nehmen können, aber Bruno bot es mir nicht an, und die
Giaconda
war nicht mein Schiff. Von der Brücke aus verfolgte ich, wie wir High Haven verließen, und ich verabschiedete mich still von den Gassen und Plätzen meiner Kindheit. Sie sahen aus wie immer – dunkel, eng und verrußt, und sie verschachtelten sich ineinander und versanken langsam unter den Piers der Stadt. Ich glaubte, Kappi erkennen zu können – ein einsamer brauner Posten, der den Hafen mit seinem Besen bewachte.
Ich schlief lange, wachte aber trotzdem erschöpft und traurig auf. Draußen hingen weiß, kalt und funkelnd die Sterne im Nichts. Ich schaffte es gerade, mich anzukleiden, ehe mich die Kräfte verließen. Ich hockte auf meiner Koje und starrte die Matte auf dem Boden an. Sie war fleckig und ausgefranst. Früher mochte sie vielleicht hellblau gewesen sein, war aber
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