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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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anderen ein Bild der Ringe von Austriga IV.
    Unten in der Halle singt die Stimme dieselbe Passage von Verdi noch einmal. Es ist der Hausdiener, der im Seniorenblock den Morgentee zubereitet.
    Der Attentäter setzt sich im Bett auf und reibt sich die Augen. Im Moment will ihm der Name des Mannes nicht einfallen. Namen sind so unbeständig wie Schall und Rauch, einfach zu ersetzen und auszulöschen.
    Der Attentäter steht auf und zieht die Vorhänge auf.
    Er schaut auf das Eisengitter mit seinen stählernen Dornen, das draußen vor dem Fenster auf einer weißen Mauerkrone verläuft. Dahinter dehnt sich ein weiter Himmel in der Farbe von frischem Fleisch.
    Der Name des Mondes ist Dread – kein sonderlich populärer Ort wegen der Luft, die sich fast so schwer atmen läßt wie zersplittertes Glas. Und natürlich wegen des Colleges.
    Der Attentäter begibt sich wieder ins Bett zurück. Er ist zufrieden mit diesem Ort. Sein Vater ist kürzlich gestorben, und seine Mutter hat er nie gekannt. Sein Zuhause ist diese Institution hier. Aber da er nun ein Praktizierender ist, bleibt er nirgendwo sehr lange.
    Er ist menschlich – und gerade neunzehn Jahre alt.
    Der Hausdiener ist auch ein Mensch, aber schon älter. Mit einem großen Glas voll heißem Wasser in einem Einsatz aus gehämmertem Silber betritt er das Zimmer. In dem Wasser schwimmen vier oder fünf leuchtende Beeren und ein schlankes, steifes, kräftig-grünes Blatt. Automatisch testet der Attentäter Farbe und Duft und atmet tief das Aroma ein. Er prüft das Getränk, ohne darüber nachzudenken, auf Gift. Der Diener schmunzelt in sich hinein. Er weiß, was der junge Herr da macht.
    Solch junge Leute sind im Orden nichts Ungewöhnliches. Viele der besten Praktizierenden waren jung gewesen. Ihre größten Leistungen vollbringen sie wie die Mathematiker noch vor dem dreißigsten Lebensjahr – ehe ihre Persönlichkeit zu sehr ausgereift ist. Es ist möglich, in diesem Geschäft alt zu werden, obwohl kein Versicherer einem eine Versicherungspolice ausstellen würde. Ein Stockwerk tiefer, im Seniorenblock, wohnen einige Professoren, die nur noch sehr selten praktizieren, sondern ihre Zeit damit verbringen, den Nachwuchs, zu unterrichten, zu debattieren und den Polizisten, die sie besuchen, Ratschläge zu erteilen. Die Existenz und der Einfluß dieses Ordens, von allen zivilisierten Welten in die Illegalität verbannt, wird von jedermann geleugnet. Das College ist auf keiner einzigen Karte zu finden.
    »Sie verlassen uns heute schon wieder, Signore«, sagt der Hausdiener, während er in einer Seifenschale Schaum schlägt.
    »Beim Gezeitenwechsel«, antwortet der junge Mann und beobachtet ihn, während er seinen Tee trinkt.
    »Heute ist der Tag, an dem Sie Ihren Posten antreten«, meint der Mann und schiebt das lange Haar des Jungen zurück.
    Der Attentäter verfolgt aufmerksam das Mienenspiel und die Bewegungen des Älteren, als ob dieser ein Subjekt sei.
(Subjekt
sagen sie, nicht
Opfer,
denn das wäre vulgär.) Mit seiner scharfen Musterung will er den anderen nicht verletzen. Für ihn ist es nur die einzig mögliche Art, jemanden anzusehen.
    »Ihres Vaters Posten, und schon der seines Vaters«, meint der Ältere selbstzufrieden.
    »Willst du mir Glück wünschen?« fragt ihn der Junge.
    »Nein, Signore«, antwortet der Mann lächelnd. Dies ist ein ritueller Austausch, eine Höflichkeit unter den Ordensmitgliedern, die sich brüsten, nie etwas dem Zufall zu überlassen.
    »Wie ist das Wetter?« fragt der Junge.
    »Scheußlich, wie immer.« Der Steward hat es zwar noch nicht auf der Anschlagtafel vermerkt, aber das Wetter ist auch heute mit Sicherheit scheußlich.
    Nach der Rasur fährt der Junge über seine Wangen. Nur hier, denkt er, würde ich einer anderen Person erlauben, mich zu rasieren. Er will kein Frühstück und schickt den Mann weg. Dann legt er seine Reisekleidung an, die einzigen Kleider, die er mit sich führt, und schlüpft in seine Stiefel. Er begibt sich nach unten, um sich ein Gesicht anpassen zu lassen.
    Der Planet ist noch nicht am Himmel aufgestiegen, aber die Sonne geht auf. Ihre Strahlen fallen durch ein Fenster im Erdgeschoß auf die Stufen und das Treppengeländer. Der Junge steigt ins Sonnenlicht hinunter. Seine Stiefel sind aus indischem Gummi und Filz. Sie verursachen kein Geräusch auf der Treppe. Einige Junioren-Schüler begegnen ihm auf ihrem Weg zum Unterricht an der Garrotte und verstummen ehrfürchtig bei seinem Anblick. Sie drücken sich

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