Sophies Kurs
an die Wand, um ihn vorbeizulassen. Der Schüler, der die Aufsicht hat, grüßt ihn respektvoll.
Der Meister der Masken steht in der Mitte seines Labors, umgeben von seinen Schützlingen. Blicklos starren die Gesichter aus ihren Glasbehältern auf ihn herunter. Es riecht stark nach Salzlösung. Der Meister trägt seine schwarze Lederschürze und Stulpenhandschuhe. Die Hände hat er in die Hüfte gestemmt. »Ich könnte Ihnen das Gesicht geben, das Ihr Vater benutzt hat«, meint er.
Aber genau das wollte der junge Mann nicht. »Nein, Federico, gib mir das Gesicht von niemand.«
Der Meister der Masken sieht sich in seinem altmodischen Raum um und betrachtet alle Gesichter. Er ist beleidigt – und belustigt über die Schroffheit des Jungen. Er spreizt die Hände. »Wie soll ich das bewerkstelligen, Signore? Jedermann hier war mal irgendwann jemand. Und wenn Sie einen von denen hier mit hinausnehmen, wird er wieder jemand sein.«
Der Junge macht keine Anstalten, seine Wahl zu treffen. Er verschränkt die Arme. »Du weißt, was ich will, Federico. Ein ganz alltägliches Gesicht. Das Gesicht eines Mannes, an dem man auf der Straße vorbeigeht, ohne ihn wahrzunehmen.« Der Junge dehnt seine gutgeformten Finger und drückt sie gegen den Bizeps.
Der Meister zuckt die Achseln und geht zu einem Reagenzglas, in dem ein hohles Gesicht schwimmt, weiß wie Wachs. Mit dem offenstehenden Mund und den weit aufgerissenen Augen macht es den Eindruck, als sei es schockiert darüber, sich hier wiederzufinden.
»Das ist das Gesicht eines Ehebrechers. Er wurde geschnappt, als er nach Hause eilte, um noch vor seiner Frau dort zu sein.« Der Meister lächelt ein gespenstisches Lächeln, wobei er kaum die Lippen verzieht. »Ist der alltäglich genug für Sie – ein Ehebrecher?«
Der Attentäter mustert das Gesicht. Er runzelt die Stirn. »Nein«, sagt er und denkt bei sich: Schuld lockt die Neugierigen an wie Marmelade die Wespen. Er hebt die Hand und beschreibt, was ihm vorschwebt: »Es soll ein Gesicht sein, das man jeden Tag sieht, an das man sich aber nicht erinnern kann. Bitte, Federico, gib mir ein solches Gesicht.«
Der Meister wandert an seinem Arbeitstisch entlang. Vor dem nächsten Behälter bleibt er stehen. Das Gesicht, das darin schwimmt, ist älter und fetter. Die Wangen sind schlaff und zeigen wie bei einem Ungeborenen keinerlei Alterungsspuren. Die Haut ist so klar, daß das Webmuster des nichtmenschlichen Adergeflechts durchschimmert.
Federico deutet eine spöttische Verbeugung an. »Da haben Sie Ihr Gesicht, Signore. Dieses hier. Es ist das Gesicht eines Butlers, den sein Herr jahrelang völlig ignorierte.« Der Meister der Masken lächelt stärker. »Sein Herr kann ihn nun nicht mehr sehen. Er weiß nicht, daß der Mann, der immer hinter seinem Rücken stand, während er aß, sein Gesicht verloren hat.«
Der Attentäter geht hinüber. Er kratzt sich den Kopf und streicht sich übers Kinn. »Nein. Das ist auch nicht das richtige.« Denn er weiß, daß die Leute auf der Straße die Diener der Reichen entweder neidisch oder mitleidig anstarren. Er legt die Hand um den Ellbogen. »Federico, gib mir ein Gesicht, von dem niemand Notiz nimmt. Und beeil dich ein wenig, ja? Das Boot mag ja warten, der Gezeitenwechsel aber nicht.«
Der Meister der Masken schaut sich zweifelnd in seinem Lager um. Dann schüttelt er den Kopf. »Leider kann ich Ihnen nicht zu Diensten sein, Signore«, meint er. »Solche Gesichter haben wir nicht. Es sei denn, es wäre dieses dort«, brummt er mürrisch und zeigt auf das Gesicht im nächsten Glas. »Es ist das Gesicht eines Leichenbestatters. Die schaut nie jemand an.«
»Dieses Gesicht, Federico?«
»Genau dieses Gesicht, Signore.«
Das Gesicht ist vornübergeneigt und starrt auf den Boden. Die länglichen Wangen sind blau, so blau wie die tiefen Augenhöhlen.
Der Attentäter kichert freudlos. Mit dem Knöchel klopft er gegen das Reagenzglas, als wolle er die Aufmerksamkeit des Gesichts auf sich lenken. Mit der anderen Hand versetzt er dem Arm des Meisters einen leichten Klaps. »Netter Scherz, Federico, wirklich. Ein Leichenbestatter, wie?«
Er dreht sich um und mustert die Reihen der in ihrem obskuren Likör schwimmenden Gesichter. Dann zeigt er auf eins. »Ich nehme das da. Von wem ist es? Nein, sag es mir nicht. Ich will es nicht wissen. Je weniger ich weiß, um so unbeschwerter kann ich reisen.«
Mit diesen Worten setzt er sich in den verstellbaren Sessel. Federico bindet ihm
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