Sophies Kurs
was Sie gerade gelesen haben.
Meine Schreibstube befand sich im Dachgeschoß vom
Anker der Hoffnung.
Sie hätten sie auf den ersten Blick sicher für eine Rumpelkammer gehalten. Tatsächlich war sie nur ein niedriger, halbdunkler Raum unter dem Dachfirst, in dem sich Truhen mit allerlei Gerümpel, unbrauchbare Möbel, einzelne Stiefel, zerbrochene Kerzenhalter und zahllose Kisten mit leeren Flaschen stapelten. Über allem lag eine dicke Staubschicht. Bei schlechtem Wetter regnete es durchs Dach. Unter die undichte Stelle hatte ich einen alten Eimer gestellt. Aber da ich immer vergaß, ihn zu leeren, hatte ich mir etwas Besseres einfallen lassen müssen, um den Komfort meines Schreibbüros zu erhöhen. Aus einem Stück Dachrinne und ein paar alten Rohren hatte ich mir deshalb ein Verteilersystem zurechtgebastelt, das das Regenwasser auffing und eine nach der anderen die leeren Flaschen füllte – denn davon gab es Hunderte. Aber wenn es ein schöner Tag war, hatte niemand ein schöneres Schreibbüro.
Mein Schreibtisch war eine große flache Zigarrenkiste, die Mr. Rodney für mich aufgetrieben hatte. Sie hatte sogar einen Deckel, um die Mäuse fernzuhalten. In Johnnys abgewetzten Pantinen und Miss Halshaws Mantel saß ich auf meinem Stuhl, der mal ein Sessel gewesen war, hielt den Schreibtisch auf den Knien, schrieb die Briefe für meine Kundschaft und versiegelte sie mit dem Wachs von den Hälsen der Whiskyflaschen, das ich auf der Spitze meines Messers über einer Kerzenflamme erhitzte. Ich benutzte nicht meinen Ring dazu, weil ich nicht wollte, daß er mit Wachs in Berührung kam. Ich hielt ihn versteckt und zeigte ihn niemandem, nicht mal Gertie. Es war kein Ehering, das hatte ich anhand der Ringe von Mrs. Rodney und all der Frauen, die in den
Anker
kamen und ihre Ringe noch nicht versetzt hatten, inzwischen feststellen können.
Auch der Schullehrer, der sonst nie in den Anker kam, um einen Drink zu nehmen, war schon da gewesen, um die kleine Schreiberin von High Haven kennenzulernen. Er versuchte mich zum Schulbesuch zu überreden – welch eine Versuchung für mich! –, aber ich sagte ihm, daß ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen müsse. Eines Tages würde ich natürlich selbst einmal eine Lehrerin sein – irgendwo auf einer anderen Welt, und mit der seltsamsten Schulklasse, die je mit dem ABC gekämpft hatte (ja, Kappi, das mußte ich!). Doch alles zu seiner Zeit, wie Mr. Crusoe sagt.
Ich hatte keinen Lehrer, der mir sagte, wie man einen Brief schreibt, sondern nur die Leute, die zu mir kamen und mir vorsagten, was ich schreiben sollte. Sie wissen sicher, mein Herr, meine Dame, daß es Regeln und Formalitäten zu beachten gilt, die Kunst des Korrespondierens, der die richtigen Schreiber folgen – Fakten vor Überlegung, Überlegung vor Kommentar. Von all dem wußten wir nichts. Unsere Briefe waren schlichter und mußten ihren Weg über den großen Golf ohne solche Segnungen finden. Ein paar davon waren geschäftlich, die meisten aber persönliche Nachrichten, die sagen sollten: Hier bin ich, oder: Ich halte mein Versprechen, oder nur: Gott segne dich. Briefe, die sagen sollten: Erinnere dich an mich!
Die der jungen Männer waren komisch. In diesen Briefen mußten immer die Worte Darling oder Sweetheart vorkommen – oder Worte, wie sie die Konditoren auf ihre Pfefferminzstangen malen. Aber waren die Kunden erst verheiratet, vergaßen sie sie in der Regel, es sei denn, es hatte vorher einen Streit gegeben. Ihre Frauen schrieben von Geld, von Problemen im Haushalt und mit dem Vermieter. Doch irgendwie waren ihre Briefe, ohne daß dies ausdrücklich geschrieben wurde, immer voller Liebe. Ich jedenfalls empfand das so. Die Männer aber schienen das nicht zu bemerken – von denen abgesehen, die noch nicht lange verheiratet waren. Die aber wurden verlegen und schienen hinter jedem Wort die Liebe zu sehen. Ich mußte unwillkürlich an den armen Jack Spivey in seinem Sarg denken und wußte, daß mein armes Herz gebrochen war und ich mich nie, nie mehr verlieben würde.
»Miss Sophrona Rose«, sagte ich zu meinem Spiegelbild auf einigen Flaschen. Dann seufzte ich, ließ den Brief an meinen Vater unvollendet und ging wieder in die Bar hinunter. Hier stieg gerade eine Feier, halb Totenwache, halb Wiedersehensparty: Mr. Cook, der Flickschuster, hatte seine Fiedel mitgebracht, und die Maurer aus Battersea, die selbst fünf Kirchsprengel entfernt noch eine Party riechen konnten, waren mit Quetschkommode, Banjo
Weitere Kostenlose Bücher