Sophies Kurs
müssen, ging ich öfters mit Mr. Rodney zum
Anker der Hoffnung,
wo es immer einen Penny zu verdienen gab. Heute war Mr. Rodney schon vor mir dort. Mr. Mountjoy sah mich hereinkommen und rief: »Nennst du das etwa pünktlich, Sophie Farthing?«
Ich gab keine Antwort, sondern machte mich sofort daran, die leeren Gläser und Krüge einzusammeln und sie zu Mrs. Mountjoy zu tragen, die sie in der Spülküche zu mehreren gleichzeitig in einen Bottich mit grauem Wasser tauchte.
Alles im
Anker der Hoffnung
war grau – die Kleider der Gäste, ihre Haare, ihre Gesichter. Jeden Abend kamen sie hereingeschlurft und setzten sich auf ihre gewohnten Plätze. Sie wußten genau, wo sie hingehörten. Die Frauen brachten ihre Babies mit, und tatsächlich hatte ich den Eindruck, daß auch sie grau waren. Meist waren sie dürr und krank, wimmerten und plärrten ständig, bis ihre Mütter ihnen einen Lappen gaben, den sie zuvor in ihren Gin getaucht hatten. Die Gassenkinder stahlen sich herein und machten es sich unter den Tischen bequem. Sie waren meist krank, wie es bei Gassenkindern üblich ist, hatten laufende Nasen sowie Flechten und Rattenbisse an ihren Beinen. Sie stritten und rangelten miteinander, bis es Mr. Mountjoy zu bunt wurde. Er kam hinter der Bar hervor und jagte sie alle wieder auf die Straße hinaus. »Schert euch nach Hause, ihr Rangen«, brüllte er dann. Aber die Mehrzahl waren Waisen und hatten kein Zuhause. Wo immer es Matrosen gibt, dachte ich, da gibt es auch Waisen.
Als es sich herumsprach, daß ich lesen konnte, brachten die Gäste mir Briefe von ihren männlichen Verwandten mit, die Raumfahrer, Matrosen und Soldaten waren. Ihre Familien lebten als Siedler auf Caraway, Dusk und St. Malo. Einmal brachte eine Frau einen Brief von ihrem Bruder auf New Bermuda im Sternbild des Centaur, der dort siebenundreißig Jahre zuvor aufgegeben worden war. Auch kamen manchmal Fremde, meist Menschen, hielten mir flehend eine Half-Pence-Münze hin und gaben mir Papierbögen, die schon vom vielen Falten gelb und weich geworden waren: Briefe in marsianischem Französisch, in Sprachen und Schriften, die ich nicht zuordnen oder lesen konnte, zum Beispiel in arabischer Schrift, die aussah wie die Äste von Weihnachtspalmen. Leider mußte ich diese Kundschaft rüber nach Fleet schicken, wo die richtigen Schreiber sitzen. Den anderen las ich ihre Briefe vor und half ihnen, wenn sie wollten, beim Aufsetzen der Antwort. Und immer, wenn einer von ihnen sich mit mir ein wenig unterhielt, fragte ich: »Haben Sie etwas von Mr. Cox, dem Gesandten der Piloten-Gilde, gehört?«
Keiner wußte etwas. Die Gäste im
Anker der Hoffnung
waren schlichte Leute und wußten nichts über einen so vornehmen Gentleman, obwohl die meisten großes Interesse am Leben der Vornehmen und Mächtigen zeigten und stundenlang über sie redeten und diskutierten. Im Moment galt ihr Augenmerk den Plumstones und ihrer
Sophrona.
Als man mich fragte, bestätigte ich, daß ich den Schoner gesehen hatte, und – ja, es sei ein schönes Schiff. Der Name interessierte sie nicht, weil sie nichts darüber wußten, und ich verriet es ihnen nicht. Später kamen einige Mitglieder der Crew herein, deren Familien und Freunde ihnen einen seltsam schwerfälligen, armseligen Empfang bereiteten. Laute Hallos wurden gerufen, Erinnerungen ausgetauscht – aber die Wiedersehensfreude war gedämpft. Alle Männer gehörten zur Deck-Crew. Sie waren hager, und die Haut ihrer Gesichter und Hände zeigte tiefe Spuren des erbarmungslosen Weltraums. Aber niemand sagte etwas darüber. »Ihr seht alle so jung aus«, meinten ihre Angehörigen immer wieder und erzählten den Männern dann von Mr. Spivey und einigen anderen Bekannten aus dem Viertel, die verstorben waren.
In einer Ecke hockte ein Mann auf einem Faß. Sein Gesicht war so lang wie ein verregnetes Wochenende. Auf dem Boden neben ihm stand sein Seesack. Er hatte gerade erfahren müssen, daß seine Frau ihn verlassen hatte, während er im Raum war. Er hatte nichts davon gewußt. Ein paar Stammgäste standen bei ihm und spendierte ihm laufend Drinks. Seine Kameraden vom Schiff waren schon betrunken und erzählten Geschichten von weit entfernten Wunderwelten, wie ich sie von Papa gewohnt war: Hier war es eine Welt mit Planken aus Regenbogen, dort eine andere, auf der gepanzerte Kreaturen, Hirschkäfern ähnlich und so groß wie Bäume, inmitten glühender Felsen gegeneinander kämpften. Mit ehrfürchtiger Stimme berichteten die
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