Sophies Kurs
Mrs. Rose im Flüsterton, als fürchte sie, der Mörder stehe draußen auf dem Treppenabsatz. »Sie und alle Mitbewohner des Hauses, in dem sie wohnte. Es stand in der Zeitung. Jesus der Herr möge ihnen ihre schweren, schweren Sünden vergeben.«
Ich war wie vom Donner gerührt. Ich weiß nicht, warum das so heißt: vom Donner gerührt. Da war kein lauter Schlag, kein Gewitter. Nichts als eine tiefe, trostlose Stille und Leere in meinem Herzen.
Ich saß benommen auf der Bettkante. Mrs. Rose und Miss Wigram redeten über meinen Kopf hinweg weiter. Mrs. Rose erinnerte sich an High Haven. »Straßen in unterschiedlichen Größen und Höhen, durch Metallbrücken miteinander verbunden. Eine Anhäufung von Häusern, Rücken an Rücken. Die Erde rollte wie eine große blaue Murmel über den Himmel. Gelobt sei der Herr! Wie eine Murmel.« Sie erzählte das voll Stolz. Sie hatte es bis zum Rand der unendlichen See geschafft, und das war schon eine Leistung.
»Lady Plumstone hat sie entlassen«, erklärte Miss Wigram. »Sie hat sie von der
Sophrona
gewiesen, ehe wir absegelten.«
»Ich war nicht fit genug«, sagte Mrs. Rose schnell, als sei damit alles gesagt. »Mein Ischias, Sie verstehen, Miss Farthing.«
Aus irgendeinem Grund traf mich das am meisten, und ich begann heftig zu schluchzen. Dabei umarmte ich diese gute Dame, meine Amme und Retterin, von der ich bisher nichts gewußt hatte. Liebe Leser, verzeihen Sie mir bitte meine Dummheit. Aber die Sitten auf der Erde waren für mich fremd und ungewohnt. Erst in diesem Moment begriff ich, daß Lady Plumstone ähnlich wie Miss Wigram geglaubt hatte, ich sei Mrs. Roses eigenes Baby gewesen. Und ich war der Grund, daß es Mrs. Rose so schlecht ergangen war.
Meine Tränen erschreckten und verwirrten die alte Dame. Mit fahrigen Bewegungen versuchte sie mich zu beruhigen. »Sie unglückliche Person«, sagte sie sanft und drückte mir etwas in die Hand. »Hier, Miss Farthing.«
Es war eine Streichholzschachtel aus Holz. Sie war leer. Ich starrte die Frau fragend an.
»Ich habe immer eine bei mir«, sagte Mrs. Rose, »für die Spinnen und Bohrasseln. Sie krabbeln das Bett hoch, und ich rette sie.« Sie zeigte auf das nebelverhangene Fenster. »Ich bitte Mrs. Peggley, sie nach draußen zu bringen und sie dort irgendwo auszusetzen«, sagte sie bestimmt und lachte, als sei sie von sich selbst überrascht. Dann setzte sie ihre Brille auf und sah mich besorgt an.
Ich bat Miss Wigram, mich nach Hause zu bringen. Ehe wir gingen, fragte Mrs. Rose, wie es meinem Vater ginge. Ich erklärte ihr, daß er nicht gesund sei und ich ihm einen Brief schreiben würde. Ich kam mir vor wie ein Geist, als ich die Treppe hinunterstieg.
KAPITEL IX
Eine Hauptstadt
Über Ys geht die kleine Sonne auf, und mit einem Schlag verwandelt sich der Himmel in ein hartes, schmutziges Gelb. Die
kiiri
hoch auf der Fiale des Schwarzen Brunnens sind die ersten, die sie sehen. Träge richten sie sich auf, kriechen aus den Spalten der großen, verschlungenen Skulpturen, in denen sie nisten, unter Tentakelarmen und Därmen aus Marmor kommen sie hervor, steigen übereinander und picken sich gegenseitig die Zecken von den schuppigen Flügeln. Es scheint fast, als seien die Skulpturen selbst zum Leben erwacht. Sie haben Ähnlichkeit mit Krähen, die
kiiri,
obwohl sie so groß sind wie ein Kondor. Sie blecken die Zähne, recken die Hälse und strecken die Köpfe hinaus in den kalten Morgenwind, der aus den Canyons in die Lebensadern der Stadt bläst.
Den
kiiri
kündigt sich der beginnende Tag in hundertfachem Knacken und Flüstern, in tausendfachem Geruch und Gestank an. Sie riechen Frühstücke, Opfergaben, Abwässer.
Sie schwingen sich auf stille, schwindelnde Grate, die
kiiri,
und beobachten das langsam erwachende Leben in den Straßen unter ihnen. Dort geht eine Brunnenfrau mit einem Krug, die dem Seneschall des Morgens Wasser bringt. Bei dem blinden Bettler an der Ecke wird sie stehenbleiben, um seinen Becher zu füllen. Solange sie das jeden Morgen tut, sind die
kiiri
an dem Bettler oder der Wassermagd nicht interessiert. Ein paar von ihnen schweben wieder in die Tiefe, hocken sich unter das Tor der Siebzehn Widersacher und beschmieren seine Zinnen mit ihrem ekelhaften Dung. Sie beobachten die Reisenden, die die ganze Nacht draußen vor den Toren kampiert haben und allmählich in die Stadt sickern, die Corregi vom Gah Sheraa, die ihre Handarbeiten zum Kauf anbieten. Die Reisenden und die Stammesfrauen
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