Sophies Kurs
stimmt, Mrs. Clare‹, antwortete ich ihr. Ich wußte, daß sie nicht verheiratet war, da sie, wie man so sagt, ja eine Frau für jedermann war. Das ist für mich aber kein Grund, eine solche Frau nicht mit Mrs. anzureden – aus Nächstenliebe, Miss Farthing, aus christlicher Nächstenliebe. Sie sagte: ›In Gottes Namen, Mrs. Rose, nehmen Sie sie mit.«‹
Mrs. Rose trank einen Schluck Tee.
»›Um Jesu willen – nehmen Sie meine Tochter mit und bringen Sie sie dem Mann, der im Ostdock als Nachtwächter arbeitet.«‹
Mrs. Rose war ins Rezitieren verfallen, als habe sie diese Worte schon tausendmal geübt. Sie schaute von mir zu Miss Wigram und wieder auf mich.
»Ich habe es getan«, gestand sie dann. »Ich habe Sie in meiner Kabine versteckt und mit in Milch zerdrückten Bananen gefüttert.«
»Und Ihre Ladyschaft kam dahinter«, warf Miss Wigram ein.
Das Gesicht von Mrs. Rose verdüsterte sich. »Ihre Ladyschaft. Eine Stunde vor dem Andocken. Eine einzige Stunde!« rief sie aus. »Ach, Miss Farthing. Genau die Falle, in die der Fallensteller meist selbst hineintappt!«
Ich wußte nicht mehr, woran ich war. Ich sah den alten Gorch vor mir, wie er mit seinem Sack voll Fallen in den Keller im
Anker der Hoffnung
hinunterstieg.
»In High Haven gingen alle an Land«, sagte Mrs. Rose. »Ich habe eine Decke über dich gelegt, aber du mochtest das nicht. O Gott, ich habe einen Konstabler nach dem Weg gefragt.« Ihre Lippen bewegten sich, während sie ihre Erinnerung durchforstete. »Nach einer Werft, die nach einem Heiligen benannt ist.«
»Radigund«, half ich ihrem Gedächtnis nach.
»Lobet den Herrn! Ich klopfte, aber niemand öffnete. Ganz klar, denn es war ja Tag. Nun, ich konnte nicht warten. Ich schrieb eine Nachricht, denn sehen Sie, Miss Farthing, Gott gab mir die Möglichkeit, zur Schule zu gehen und etwas zu lernen.«
Miss Wigram unterbrach sie. »Miss Farthing liest und schreibt Briefe für die Gäste im
Anker der Hoffnung.«
Sie sagte das so, als sei sie mir etwas schuldig. Dabei hielt sie den Beutel mit den Priems in der Hand und strich fortwährend mit ihrem großen braunen Daumen über den Rand der Öffnung.
»Sie begannen zu weinen«, fuhr Mrs. Rose fort und betupfte mit dem Taschentuch ihre Augen. »Ich bekam Angst, denn ich wollte niemanden stören, und lief weg.« Ihr Mund bebte vor Reue. »Da saß eine Katze im Fenster und beobachtete uns. Schön für ein kleines Kind, wenn eine Katze im Haus ist.« Ihre Stimme verlor sich in einem Keuchen, und sie vergrub ihren Mund in ihrem Taschentuch.
Jetzt verstand ich endlich, warum Papa mich hassen mußte: Ich war sein Zufallskind, unbeabsichtigt, nicht gewollt. Strandgut, das die Tide vor seine Tür gespült hatte.
Ich atmete tief durch. Meine Nasenflügel bebten. »Und wie war mein Name?« fragte ich.
»Sie hat Ihnen keinen gegeben«, erklärte Mrs. Rose. »Kein Name, keine Familie – um so schwerer, die Herkunft festzustellen.« Die alte Frau lächelte stolz. »Ich war es, der Ihnen einen Namen gab. Den Namen des Schiffes.« Ihre Finger krochen wieder auf die Bibel zu und suchten das Bild. »Das schönste Schiff zwischen allen Welten. Ich schrieb ihn in die Nachricht – den Namen.«
Ich merkte plötzlich, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
»Ein Ring mit einem Kristall«, erinnerte sie sich. »Es war ihrer. Sie haben ihn ihr vom Finger gezogen, als sie Sie zum Abschied küßte. ›Sie soll ihn ruhig nehmen‹, sagte sie, ›vielleicht bringt er ihr Glück.‹ Sie sagte das sehr bitter, o ja, verbittert und traurig. Und Sie haben sehr geweint.«
Ich senkte den Kopf.
»Hätte sie das Kind nicht bei sich behalten können?« fragte Miss Wigram leise. Man konnte merken, daß dies für sie alles neu war. Sie hatte nichts von Molly Clare gewußt, hatte nie zuvor von ihr gehört. Sie stellte diese Neuigkeiten auch nicht in Frage, denn dafür war die Traurigkeit der alten Dame zu offensichtlich.
Mrs. Rose antwortete, richtete ihre Worte aber weiterhin an mich, als sei ich es, der die Frage gestellt hatte. »Sie wegzugeben, hat ihr das Herz gebrochen, obwohl es andernfalls auch Ihren Tod bedeutet hätte. Der Lohn der Sünde. Ich werde alles vergelten, sagt der Herr. Aber richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet«, schalt sie sich selbst und lachte furchtsam. »Und was soll ich Ihnen sagen: Ehe das Jahr zu Ende ging, war sie tot. Ermordet.«
Ich stieß einen leisen Schrei aus.
»Sie wurde von einem Irren umgebracht«, erzählte
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