Sophies Kurs
verraten. »Ich habe es doch schon einmal getan.«
»Und er hat dich mit ziemlich scharfen Worten zurechtgewiesen.«
Ich legte die Hände auf meine Brust. Ich war sicher, ich wurde langsam erwachsen – auch hier, an dieser Stelle, wenn ich es auch noch nicht richtig fühlen konnte. »Er wird nicht mal wissen, wer ich bin«, sagte ich.
Ich hatte nicht daran gedacht, bis ich es selbst aussprach. Es war wahr. Ich war nicht mehr die heimatlose Waise mit den weitaufgerissenen Augen, die ihn unter der Gaslaterne am Dock aufgehalten hatte. Auf keinen Fall würde er mich jetzt noch wiedererkennen.
Aber er würde sich an den Ring erinnern. O ja, daran würde er sich erinnern. Er würde mich des Diebstahls bezichtigen und einen Konstabler rufen. Abrupt drehte ich mich zur Seite und zog die Knie an, tat so, als sei Gertie nicht anwesend, als existiere sie nicht, damit sie mein Elend nicht bemerkte. Wie sehr wünschte ich mir, Mr. Cox sei niemals mehr zur Erde zurückgekehrt, um mir mit seinem Eisengesicht Angst zu machen!
Auf der Tide dieses verborgenen Elends driftete ich hinaus auf den Ozean des Schlafs und träumte, ich sei wieder zu Hause bei Papa, der mir auftrug, seinen Arm zu säubern und zu verbinden, denn er blutete. Als ich genauer hinschaute, sah ich, daß das Blut unter seiner Tätowierung herausfloß. Ich konnte es so oft abwischen, wie ich wollte, der Blutfluß endete nicht, sondern tropfte über meinen ganzen Rock, während Papa nicht aufhörte, mich anzuschreien.
Dann bemerkte ich, daß das ganze Zimmer rot war von Blut. Dunkle Flecken auf dem Teppich, die Wände und die vielen Spiegel, die dort zu hängen schienen, über und über mit Blut beschmiert. Und dann richtete sich vor mir eine Gestalt auf, eine Frau, die aus Kopf und Brust blutete, und sagte: »Verderbtheit!«, während die Glocken von St. Paul's laut durch den Raum dröhnten.
Ich erwachte mit einem Ruck und sah, daß ich mich an Gertie klammerte. Ich fühlte, daß ich mich eingenäßt hatte, und der Bauch tat mir weh. Vor Schreck begann ich laut zu jammern, was Mrs. Rodney auf den Plan rief. Mit einer Kerze in der Hand betrat sie das Zimmer.
Gertie stieß mich weg, als hätte ich sie absichtlich geweckt, um sie zu ärgern. »Sie hat angefangen, Ma«, hörte ich sie sagen.
Mrs. Rodney zog die Bettdecke weg, und ich heulte auf. Mein Nachthemd war voller Blutflecken. Also war ich tatsächlich ermordet worden!
Aber Mrs. Rodney nahm mich in den Arm und ermahnte mich sanft, mich nicht so dumm zu verhalten. Sie kümmerte sich um mich, während das Wasser warm wurde, und wusch die schlimmsten Flecken aus dem Hemd. Ich saß in der Küche bei ihr und trank etwas Heißes. »Ich habe Mama gesehen«, sagte ich und wickelte mich fester in die Decke, die sie um mich gelegt hatte. »Sie ging umher und hat zu mir gesprochen.«
»Aber, aber, Sophie-Kind«, gluckste die gute Seele vom Lambeth und legte die Hand auf die Brust. »Du darfst dir selbst nicht solche Angst einjagen. Du weißt doch ganz genau, daß deine Mutter auf dem Friedhof von St. Saviour liegt und friedlich in der Erde schlummert. Und nun zurück ins Bett mit dir, Püppchen. Versuch zu schlafen.« Aber ehe ich ging, erklärte Mrs. Rodney mir, was mit allen Frauen jeden vollen Mond geschieht und wie ich die Tage zählen mußte. Sie riet mir, dann immer ein paar Lappen bei mir zu tragen. Jetzt verstand ich, um was Gertie ein solches Geheimnis gemacht hatte, als sie sagte, ich würde es noch schnell genug erfahren.
Als das Wetter schön wurde, verlegte ich mein Schreibbüro zeitweise in den Park. Verliebte Pärchen schlenderten dort auf und ab, und Kindermädchen schoben die Kinderwagen vor sich her, während freche braune Spatzen Jagd auf Brotkrumen machten. Eines Morgens saß ich wieder auf meiner Bank in der Sonne und unterrichtete Betty Pride im Lesen – wen sah ich da auf einem weißen Pferd herangeritten kommen? Die Nachtigall der Raumrouten, Miss Evadne Halshaw in Person. Und natürlich Captain Tobias Estranguaro, der neben ihr hertrottete.
»Gütiger Himmel, Toby, das ist ja unser Mädchen!« rief Miss Halshaw laut genug, daß ich es hören konnte. Ich möchte wetten, sie ist immer sehr laut, und niemand hat ihr je befohlen, leise zu sein. Sie war wieder ziemlich außerirdisch gekleidet, trug eine dicke Filzhose und eine weite Bluse aus Madras-Baumwolle. Auf einen Hut oder eine Haube hatte sie verzichtet, und ihr gebleichtes Haar hatte sie zu einem großen Dutt gewunden. An den Ohren
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