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Sophies Kurs

Titel: Sophies Kurs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Greenland
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Bibliothek von Westminster saß ich auf einem hohen Stuhl mit einem Lederkissen und schaute mich sprachlos vor Entzücken um. Nie zuvor war ich in einer Bibliothek gewesen. Ich beschloß, für immer hierzubleiben, umgeben von ältlichen Damen, die Vergil übersetzten, und ernst dreinblickenden Herren, deren enorme Bärte immer wieder zwischen den Seiten der vor ihnen liegenden Bücher hängenblieben. Ich brauchte keine andere Nahrung mehr außer der Lektüre jedes einzelnen Buches in den Regalen. Ich würde mit der
Encyclopedia Caelestiana,
Mr. Shandys Leben, Mr. Lambs Erzählungen beginnen. Auch
Das Verlorene Paradies
mit seinen wundervollen Bildern von Welten voller Teufel und Engel würde ich mir vornehmen. Aber zuerst mußte ich die rauhen, steifen Seiten wenden, die vor mir lagen, und darauf waren genug Teufel abgebildet. Hier entdeckte ich den SCHLEICHER VON ST. KIT mit bösem Blick und zerlumptem Mantel, dort den GENTLEMAN JACK O'NORBURY, der eine in Ohnmacht fallende Lady mit einem bluttriefendem Dolch bedrohte.
    Es waren alte Zeitungsausgaben und Polizeimagazine, hatte der Bibliothekar mir erklärt, etwa zwanzig Jahre alt. Sie waren voll mit Reden von Abgeordneten vor dem Parlament und mit diesen Zeichnungen von Urteilsvollstreckungen oder anderen schockierenden Ereignissen. Ich schlug eine neue Seite, eng bedruckt mit winzigen Lettern, auf – und hielt den Atem an. Da stand es. GEMEINER MORD IN ST. PAUL'S: MASSAKER IN HAUS DER VERDERBTHEIT. Daneben ein Bild des Hauses, vor dem ein dicker Polizist stand; ein anderes mit einem Zimmer, in dem tote Frauen kreuz und quer über einem Bett lagen, große schwarze Löcher in ihren Oberkörpern. DIE BEDAUERNSWERTEN OPFER. Eine der Frauen hielt voller Verzweiflung ein kleines Mädchen im Arm, dessen Kehle durchgeschnitten war; eine andere schien mit lebloser Hand auf einen Säugling in seinem Korb zu deuten.
    Das Bild verschwamm vor meinen Augen. ich konnte es nicht länger betrachten und überflog den Text. Aber er enthielt nichts Wichtiges für mich, nichts außer HORROR und BLUT. Die Frauen wurden darin als ›arme Dinger‹ bezeichnet und mit dem vagen Hinweis bedacht, daß sie ›von der schlimmsten Sorte‹ gewesen seien – als ob sie es verdient hätten zu sterben. Mama wurde nicht namentlich genannt, auch sonst keiner der Hausbewohner, nicht einmal der Mann auf dem anderen Bild, der mit verdrehten und gebrochenen Gliedern am Fuß einer Treppe lag – wie ein alter Mann in einem Seniorenheim, der nicht beten wollte.
    Unter den Abgeschlachteten waren auch Säuglinge. Ihre Verletzungen sahen furchtbar aus. Ein Polizeiinspektor erklärte, dies sei ganz offensichtlich das Werk eines Irrsinnigen, und sprach dunkel von ›Gehirnfieber ... und anderen ekelerregenden Krankheiten‹.
    Ich wandte mich an den langen Bart im nächsten Sessel. »Bitte, Sir, können Sie mir sagen, was ›Verderbtheit‹ bedeutet?«
    Jeder am Tisch, und wahrscheinlich jeder im Raum, runzelte bei meiner Frage die Stirn und zischte leise.» Die hübsche Dame mir gegenüber legte den Finger auf den Mund. Verlegen und mit zusammengepreßten Lippen versenkte ich mich wieder in die Wildnis der Buchstaben und betrachtete erneut die toten Frauen. Ich konnte nicht mal sagen, welche meine Mama war.
    Mrs. Rose schauderte sichtlich, als ich ihr von den ekelerregenden Krankheiten erzählte. Sie bekreuzigte sich und versicherte mir rasch, daß Mama bestimmt nicht eine von dieser Sorte gewesen sei. In Wirklichkeit habe sie einige feine Herren gekannt, die sie besuchen kamen. »Einer hat sie sogar mal mit zum Mond genommen, sagt man.«
    Hatte er vielleicht ein Eisenkinn gehabt?
    Mrs Rose dachte nach und erklärte, niemand hätte etwas über ein solches Kinn geäußert. Sie glaube nicht, daß jemand den Gentleman zu Gesicht bekommen habe, sondern nur eine Kutsche – mit verhängten Fenstern.
    Ich versuchte, Mrs. Rose etwas aufzuheitern, und brachte ihr Marmeladentörtchen und kleine Blumen, die überall zwischen den Pflastersteinen wuchsen. Trotzdem wurden wir keine Freunde. Sie redete mich weiterhin mit Miss Farthing an, obwohl ich sie bat, mich Sophrona zu rufen – »mit dem Namen, den Sie selbst mir gegeben haben, Mrs. Rose.« Wie konnte ich ihn jemals zu meinem eigenen machen, wenn mich nie jemand so nannte. Aber sie brachte es nicht fertig. »Miss Farthing, welch eine Freude!« pflegte sie auszurufen, wenn ich ihr Zimmer betrat. Dann klatschte sie furchtsam die Hände zusammen und sank in die Kissen

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