Sorry
zwei Tagen werden sechs. Aber er hält still. Er macht die Tests mit und starrt die Zimmerdecke an, als wäre dahinter eine Tür, durch die er flüchten könnte. Seine Gedanken leben im Haus der Belzens weiter. Er fragt sich, wie viele Spuren er hinterlassen hat. Er fühlt sich verbraucht und allein. Auch wenn ihm dieser Zustand in den letzten Jahren vertraut geworden ist, will er ihn nicht als gegeben hinnehmen. Resignation paßt nicht zu ihm.
Niemand weiß, daß er sich wieder im Krankenhaus befindet; niemand soll es erfahren. Es gibt so etwas wie Würde , denkt er und kann die alten Riten der Eskimos verstehen, die ihre Greise auf eine Eisscholle setzten und auf das Meer hinausstießen. Er will spurlos verschwinden, wenn es für ihn soweit ist.
Karl ruft ihn am sechsten Tag an.
– Wo bist du?
– Im Restaurant, sagt Karl, auf der Toilette. Er ... er ist da. Er sitzt an meinem Tisch und wartet. Es ist genau, wie du gesagt hast. Er hat mich gefunden.
– Beruhige dich, Karl.
– Das Schwein mache ich fertig, verstehst du? Ich werde ihm genau das antun, was er Fanni angetan - - -
– Ich sagte, du sollst dich beruhigen, unterbricht ihn der Mann. Karl atmet tief ein, Karl atmet laut aus.
– Ich bin ruhig.
– Sei ruhig und vorsichtig. Und was du ihm auch antust, ich will ihn sehen. Ich will hören, was er zu sagen hat.
– Wann ...
Karl verstummt wieder. Er beherrscht sich, er versucht es. Seine Stimme klingt anders, als er weiterspricht.
– Wann treffen wir uns?
Klein, seine Stimme ist klein, als wäre Karl noch immer zehn Jahre alt und voller Unschuld. Wann? Der Mann zögert, niemand soll ihn so sehen.
– Kümmere dich um Meybach, sagt er. Dann melde dich, und wir sehen weiter.
Karl seufzt. Der Mann verzieht das Gesicht. Der Seufzer schmerzt in seinem Ohr. Heimweh. Er legt auf, bevor der Schmerz sein Herz erreichen kann. Er horcht in sich hinein. Er wartet auf ein Echo. Eine Warnung. Nichts kommt zurück. Die Erregung ist wie ein pulsierender Stromfluß, der bis zu seinen Füßen hinunterführt und verebbt. Schwach, aber lebendig.
Er wartet.
Er wartet bis zum Abend.
Er wartet bis zum Abend auf Karls Anruf, dann zieht er sich an und verläßt das Krankenhaus.
Der Mann hat gelesen, daß alle Menschen miteinander verbunden sind. Ob mental oder genetisch, daran erinnert er sich nicht mehr; er weiß nur, daß unbegründete Aversionen und Sympa thien darauf zurückzuführen sind. Jeder Mensch hat von Geburt an eine Vergangenheit, die ihn durch sein ganzes Leben begleitet. Egal wo, egal wer er ist. Und wie alle Menschen miteinander verbunden sind, so sind auch die Ereignisse miteinander verbunden. Nichts geschieht ohne Sinn.
Ihm ist bewußt, daß das ein mächtiger Blödsinn ist und daß nur geschieht, was man geschehen läßt. Deswegen ist bei ihm so lange nichts geschehen. Er war zu lange abwesend. Als hätte er in einem geschlossenen Tank gelebt. Im Nichts. Abwesend. Und obwohl er es als Blödsinn abtut, rumoren die Fragen in ihm. Was verbindet Lars Meybach und diese Leute in der Villa? Warum haben sie Fanni auf dem Grundstück vergraben? Was wissen sie?
Als er in das Haus der Belzens zurückkehrt, ist der Verwesungsgestank so heftig, daß er taumelt. Er schließt die Haustür hinter sich und bleibt im Flur stehen. Er würgt und versucht, flach zu atmen. Er schafft es bis zur Toilette im Erdgeschoß, wo er sich erbricht.
Er ist eine Woche nicht im Haus gewesen und hat vergessen, die Heizung runterzustellen. Konstante 25 Grad haben dafür gesorgt, daß die Verwesung schneller fortgeschritten ist, als er dachte.
Nachdem sein Magen leer ist, kippt er die Fenster im Erdgeschoß auf und öffnet die Terrassentür, um für Durchzug zu sorgen. Im oberen Bad entdeckt er einen Glasbehälter mit Tiger Balsam. Er schmiert sich einen dünnen Film unter die Nase, tritt in den Garten und atmet die Nachtluft tief ein. Er sieht auf der gegenüberliegenden Seite ein einzelnes Licht in der Villa brennen. Er prüft seine Hände. Sie sind ruhig. Er schaut zum wiederholten Mal auf sein Handy. Er will sich nicht eingestehen, was Karls Schweigen zu bedeuten hat. Karl würde ihn nie warten lassen.
Nicht Karl.
Die Belzens liegen im Obergeschoß, wie er sie zurückgelassen hat. Er versiegelt die Zimmertür mit Klebeband. Er weiß, daß er den Geruch damit nicht lange zurückhalten kann, er hat aber auch nicht vor, mehr als drei Tage im Haus zu bleiben. Drei Tage müssen reichen.
Er bleibt länger
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