Sorry
Straßenseite verschwunden war. Die Jungs lachten hysterisch los, sie drückten sich die Hände auf den Mund und lachten. Sie stießen einander an und glaubten an Zauberei, als hätte ihr Beschluß die Dämonen vertrieben. So einfach ging das.
– Jetzt haben sie sich verpißt, sagte Butch.
– Jetzt haben sie sich aber echt verpißt, stimmte Sundance ihm zu.
Sie waren erleichtert, sie hatten nicht wirklich vorgehabt, von zu Hause wegzurennen. Sie hatten sich so sehr gewünscht, daß die zwei Dämonen aus ihrem Leben verschwanden, und die Dämonen hatten ihnen den Gefallen getan. Sie waren weg.
Für ein Jahr.
Auf den Tag genau.
Dann kehrten sie wieder.
Butch und Sundance sprachen mit keinem Wort über Mißbrauch. Könntest du noch einmal in dieser Zeit sein, würdest du ihnen dieses Wort ins Ohr flüstern. Du würdest es ihnen in ihre Schulhefte schreiben, du würdest von einer Klasse zur anderen gehen und die Tafeln mit diesem einen Wort füllen.
Mißbrauch.
Es gab einen einzigen Satz, der darüber verloren wurde. Dieser Satz klingt bis heute für dich wie ein unangenehm hoher Ton, der alle Erinnerungen auf einmal hervorruft. Auch wenn er damals Butchs Mund nur im Flüsterton verließ, steckte in ihm mehr Kraft als in einem Schrei.
– Ich will nie wieder Hund sein.
Butch war es, der die Frau und den Mann ein Jahr später als erster sah. Der Wagen parkte in der Einfahrt gegenüber vom Schultor. Das Pärchen schien sich nicht verändert zu haben, wie es da hinter der Windschutzscheibe saß und wartete.
Butch sah sie, sie sahen Butch.
Er drehte sich um und ging wieder in die Schule. Er setzte sich neben den Getränkeautomaten auf den Boden und wartete, bis Sundance vom Sportunterricht kam. Er saß geschlagene zwei Stunden einfach nur auf dem Boden, ohne sich zu rühren. Er wußte, daß sie es nie wagen würden, die Schule zu betreten. Er glaubte sich in Sicherheit und starrte auf den Eingang. Er versuchte, nicht zu blinzeln, denn wenn er die Augen unentwegt offenhielt, dann blieben sie vielleicht weg.
Sundance wäre beinahe an ihm vorbeigelaufen.
– He, was machst du denn hier?
Butch konnte ihm nicht antworten. Seine Augen waren trokken, der Mund fühlte sich an wie eine Falle, die zugeschnappt war und nicht wieder aufging. Sie sind wieder da! wollte er rufen. Ich habe sie gesehen! Kein Wort kam heraus, erst als Sundance ihn auf die Beine gezogen hatte, schnappte die Falle plötzlich auf, und die Worte taumelten aus seinem Mund wie Gefangene, die ein Jahr lang kein Tageslicht gesehen hatten.
– Es geht wieder los.
Mehr brauchte er nicht zu sagen.
Am selben Tag planten sie die Flucht.
Damals sah es so aus, als gäbe es Regeln im Leben. Die Jungs sind am Morgen erwacht und am Abend eingeschlafen. Sie aßen mehrmals am Tag und hörten auf ihre Eltern; sie paßten in der Schule auf und standen bei Rot an der Ampel und warteten. Diese geregelte Welt begann sich mit dem Tag der Vergewaltigung aufzulösen.
Die Jungs dachten nicht daran, irgend jemandem von den Ereignissen auf der Baustelle zu erzählen. Die Angst vor der Bestrafung war zu groß, denn was, wenn Fanni und Karl es erfuhren? Und dann war da natürlich die Furcht, daß auf sie gezeigt wurde und jeder sich dachte, sie seien selbst schuld daran. Was hatten wir falsch gemacht? Was hätten wir anders machen können? Du kannstes bis ins kleinste Detail nachvollziehen. Es gibt Bücher zu diesem Thema, die Macht des Täters über das Opfer. Kinder sind so leicht zu manipulieren, sie kennen nur die einfachsten Regeln. Wenn man ihnen einen Ball zuwirft, dann fangen sie ihn auf. Alles wird anders, wenn das Licht sich von ihnen abwendet und die Dunkelheit sie berührt.
Butch und Sundance gaben sich zwei Tage Zeit, um alles vorzubereiten. Sie wollten unauffällig sein. In diesen zwei Tagen hielten sie Ausschau nach dem Auto und sahen es mehrere Male vor der Schule, an der Bushaltestelle, an einer Kreuzung. Das eine Mal saß der Mann allein im Wagen, und Butch und Sundance gerieten derart in Panik, die Frau könnte plötzlich hinter ihnen auftauchen, daß sie in den falschen Bus stiegen. Nur um in Bewegung zu bleiben. Sechs Stationen lang.
Am Abend des zweiten Tages beschlossen sie, bei Butch zu übernachten, um dann in der Nacht zu verschwinden. Sie hatten zwei Adressen. Ein Onkel von Butch lebte in Bochum. Sundance sagte, der Onkel wäre okay, dem könnten sie alles erzählen. Die zweite Adresse war die der Schwester von Sundance. Sie lebte
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