Sorry
Tritte ab, daß sie zerbeult umkippt, das Fahrrad von Tamara verliert seinen Hinterreifen.
Wie konnten wir es nur so vermasseln, wie nur?
Eine Viertelstunde lang tobt Wolf sich aus, dann verläßt er den Schuppen mit einem Armvoll Holz. Er ist außer Atem, aber es geht ihm besser. Als er in die Küche kommt, sitzt Kris allein am Tisch.
– Wo steckt Tammi?
– Im Wohnzimmer. Sie recherchiert Haneff und Meybach im Internet.
– Wie hast du sie denn dazu gebracht?
– Wir haben in Ruhe geredet, mehr war nicht nötig.
Wolf setzt sich.
– Wir haben Mist gebaut, nicht wahr?
– Haben wir.
– Wir könnten sie wieder rausholen ...
– Und dann?
Kris schüttelt den Kopf.
– Vergiß es, wir lassen sie in Ruhe und warten ab, was Tamara herausfindet.
– Und was ist mit Frauke? Ich mache mir Sorgen um sie.
– Frauke ist Frauke, sie wird sich schon beruhigen. Du kennst sie doch. Sie rennt schnell weg, aber sie kommt genausoschnell wieder zurück.
Da habe ich andere Erfahrungen gemacht , denkt Wolf und sagt: – Sie war so kalt. Sie hat sogar einen Rucksack gepackt.
– Und sie hat nicht einmal tschüs gesagt, ich weiß.
Die Brüder sehen sich an.
– Sie wird wiederkommen, sagt Kris zuversichtlich, glaub mir.
Wolf nickt und glaubt ihm. Niemand kann in dem Moment wissen, daß Kris seine Zuversicht bald bereuen wird.
Tamara sitzt auf dem Sofa, als die Brüder ins Wohnzimmer kommen.
– Hat Meybach sich auf deine Mail hin gemeldet? fragt Kris. Tamara schüttelt den Kopf.
– Ich habe die Namen durch zwei Suchmaschinen geschickt. Bei Lars Meybach gab es keinen Treffer, dafür weiß ich jetzt aber, wer Dorothea Haneff war. Sie war nie Witwe, denn sie hat nie geheiratet. Sie hat auch nie in Berlin gelebt. Irgendein Klassenkamerad von Haneff hat eine Homepage und alle seine Mitschüler mit Biographien gelistet. Dorothea Haneff wurde in Hannover geboren, hat dort die Schule abgeschlossen und dann bei einer Baufirma gearbeitet.
– Das ist doch was, sagt Kris. Laß uns ihren Hintergrund checken. Irgendwo in ihrer Vergangenheit wird Meybach sich verstecken.
– Ich glaube nicht, sagt Tamara.
– Wieso glaubst du das nicht?
– Weil Dorothea Haneff vor drei Jahren an einem Gehirntumor gestorben ist.
– Was?
Wolf geht um das Sofa herum und sieht auf den Bildschirm.
– Vielleicht gibt es eine andere Haneff.
– Wolf, ich bitte dich, so ein Name - - -
– Aber wieso sollte er uns einen falschen Namen geben?
– Wieso sollte er uns überhaupt irgendwas geben? fragt Tamara zurück.
Sie sehen sich an, die Theorien der Brüder sind über den Haufen geworfen. Eine neue Frage hat sich aufgetan, und Tamara spricht sie schließlich aus:
– Wer ist die Frau in unserem Garten?
DU
Du hast nie daran gedacht, ihren richtigen Namen preiszugeben. Nicht aus Furcht, du hast keinen Grund, dich zu fürchten. Ohne Namen ist sie ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben, und das war die Idee dahinter. Du hast sie aus der Realität verschwinden lassen, und Dorothea Haneff mußte dafür herhalten. Wenn dein Vater davon wüßte, wäre er nicht sehr erfreut. Dorothea Haneff ist seine Jugendliebe gewesen. Vor drei Jahren fuhr dein Vater wegen der Beerdigung extra von Berlin nach München. Mehr als sechshundert Kilometer, um sich von einer Frau zu verabschieden, die ihn in seiner Jugendzeit abgelehnt hatte. Sehr pathetisch.
Die Mail von der Agentur erreicht dich um elf Uhr früh. Du lädst die Nachricht samt Anhang herunter und spielst sie ab. Erst kommt nichts, dann ein Rascheln, dann hörst du Wolf Marrers Stimme. Die Ernsthaftigkeit, die Wut. Du unterdrückst ein Lachen und löschst die Datei.
Auch wenn es für einen Außenstehenden so aussehen könnte, als wäre das hier nur ein Spiel für dich, weißt du es besser. Du bist kein Spieler, du bist ein Schuldner. Und weil es kein Spiel ist für dich, gibt es auch keine Regeln. Alles ist möglich. Wir reden hier über das Leben. Wir sind ein wenig metaphorisch, aber es paßt zu deinen Gedanken. Wer sich bewußt wird, daß es keine Regeln gibt, der hat einen großen Schritt nach vorne getan. Du hast das sehr früh begriffen, was dir aber nicht wirklich half, mit deinem eigenen Leben klarzukommen. Du hast Fehler gemacht und die falschen Entscheidungen getroffen. Falsche Entscheidungen kann man nicht vermeiden. Nicht, wenn man sechsundzwanzig ist, und ganz besonders nicht, wenn man mit neun Jahren durch den Regen nach Hause läuft, nachdem man vergewaltigt
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