Sorry
immer müde, die Augen blutunterlaufen.
– Ihr zwei seid mir ein Rätsel, sagte er, ich begreife euch nicht. Deine Mutter hat sich heute mittag bei mir gemeldet, sie hat mich von einem der Münzfernsprecher im Aufenthaltsraum angerufen. Ich sollte dich finden und dir sagen, daß sie ...
Er brach wieder mitten im Satz ab. Frauke sah die Tränen und fragte sich, wie er ihre Mutter nur so lieben konnte. Nach all den Jahren. Kein Mensch sollte einen anderen Menschen so lieben.
– Was hat sie dir erzählt? wollte er wissen.
Sie sagte es ihm. Sie sagte ihm alles, was sie von ihrer Mutter erfahren hatte, und sah, wie er von Freude zu Trauer wechselte. Freude darüber, daß seine Frau für Momente klar im Kopf gewesen war und ihn angerufen hatte; und Trauer, weil sie über den Teufel sprach, als wäre er ein gerngesehener Gast.
– Komm, sagte sie, laß uns gehen.
Auf der Straße vor dem Villengrundstück ließ sie den Arm ihres Vaters los und setzte sich in den Wagen. Sie schloß die Fahrertür, startete den Motor und drehte die Heizung auf. Sie atmete tief durch. Sie wollte ihren Vater nicht ansehen, wie er da am Straßenrand stand und sie beobachtete. Es war nicht einer ihrer besten Tage. Erst schleppte sie ihren Freunden die Polizei ins Haus, dann ließ sie sich auf ihre Mutter ein und jetzt das hier. Vielleicht verschwindet er, vielleicht vergißt er mich, und wir sehen uns nie wieder. Die Beifahrertür öffnete sich, ihr Vater ließ sich mit einem Seufzer in den Sitz fallen.
– Ich möchte nur noch schlafen, sagte er. Bleibst du heute nacht bei mir?
– Und was ist mit deinem Wagen?
– Den hole ich ein anderes Mal.
Seine Hand drückte ihr Bein.
– Bitte, Frauke, ich bitte dich.
Frauke wollte nicht zu ihrem Vater nach Hause fahren und seiner neuen Flamme begegnen. Niemand sollte sie so sehen. Ihr Vater sagte, er würde das verstehen. Also nahmen sie sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel in der Mommsenstraße. Kaum hatten sie das Zimmer betreten, legte ihr Vater sich auf die eine Betthälfte und war innerhalb von Minuten eingeschlafen. Frauke saß am offenen Fenster und rauchte. Ihre Gedanken kreisten, sie waren wie Raubvögel, die auf eine verräterische Bewegung warteten.
Wie konnte Meybach nur?
Gegen Mitternacht nahm sie ein Bad und ließ sich vom Lieferservice eine Pizza bringen. Die Frage wich nicht von ihr, die Frage wollte eine Antwort. Meybach hatte definitiv einen Fehler gemacht. Er war Frauke zu nahe gekommen. Er hätte von ihrer Mutter wegbleiben sollen. Jetzt war die Sache persönlich, und damit kam Frauke überhaupt nicht klar.
Wie konnte er nur? Nun sag schon, wie?
Für eine Weile betrachtete sie ihren schlafenden Vater, der sein Leben lang passiv gewesen war und immer mit der trägen Hoffnung gelebt hatte, daß seine Frau eines Tages wieder gesund werden würde. Während Frauke sein beständiges Atmen hörte, begriff sie, daß sie niemals so werden durfte. Keine Passivität, keine trägen Hoffnungen. Sie beschloß, direkt auf ihr Ziel zuzugehen. Kein nervöses Herumgetänzel mehr. Schluß mit dem Warten. Sie haßte es, hilflos zu sein.
Sie aß die Pizza und wartete ab, ob sie es sich doch noch anders überlegen würde. Doch mit jeder Minute, die verging, stieg ihre Zuversicht. Der einzige Haken war, daß sie nicht zu früh fahren wollte, was absurd war, denn es gab keine richtige oder falsche Zeit, um sein eigenes Zuhause zu besuchen.
Außer du willst erwischt werden.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und sah sich im Spiegel an.
Jetzt oder nie.
Sie schrieb ihrem Vater einen Zettel, zog sich ihren Mantel über und ging in den Schnee raus.
Eine halbe Stunde später schloß sie die Haustür auf. Es war still, eine angenehme, vertraute Dunkelheit füllte die Räume, und in der Luft lag der Duft eines Holzfeuers. Frauke zog ihre Stiefel aus und ließ sie vor der Haustür stehen. Keine Spuren. Sie legte die Hand auf die Heizung im Flur. Die Wärme war noch da, sie würde erst im Morgengrauen verschwunden sein. Frauke wußte, wie frostig sich die Villa nach dem Erwachen anfühlte. Der Luxus einer Dusche, das Arbeiten des Heizkessels, der Wärme durch das Haus pumpte, ein neuer Tag.
Ohne mich.
Frauke ließ die Haustür einen Spalt offenstehen und trat ein. Bitte, sei, wo du immer bist, bitte.
Sie blieb bei der Garderobe stehen und durchsuchte die Jacke. Nichts.
Sie griff nach dem Mantel.
Nichts.
Und jetzt? Was tue ich jetzt? Ich kann ja schlecht nach oben gehen und
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