Sorry
hören. Sie hat ein Bild vor Augen, das sie nie gesehen hat und nie sehen wird – Kris, der sich nach vorne beugt, mit dem MD-Player an seinen Lippen, während er sich bei dem Toten entschuldigt. Es überrascht Tamara, wie ruhig sie jetzt ist. Kris hat recht behalten, sie ist stark. Sie hatte dieses Mal auch kein Problem, den Reißverschluß des Schlafsacks bis zum Ende hochzuziehen.
Ich werde stumpf, ich brenne von beiden Seiten, ich - - -
Kris stellt sich zu Tamara ans Fenster. Sie schauen beide in den dunklen Hinterhof. Nur in zwei Wohnungen brennen Lichter.
– Frierst du?
– Ein wenig.
Kris legt den Arm um ihre Schultern. Es wärmt nicht, es ist aber angenehm.
– Holst du den Wagen?
Es ist wie vor einer Woche. Tamara geht die Treppe hinunter, öffnet beide Torflügel, steigt in den Wagen und fährt rückwärts auf den Hinterhof. Alles ist genau wie vor einer Woche. Nur daß Wolf nicht dabei ist und daß Frauke nicht mehr lebt und daß ich nicht mehr die bin, die ich einmal war. Sie steigt aus dem Wagen und schaut an der Hausfassade hoch. Kris’ Gesicht erscheint als heller Fleck in der Dunkelheit. Sie sehen sich über die vier Stockwerke hinweg an. Ein Mann und eine Frau, die sich um einen Toten kümmern.
Sie sind nicht dumm, sie suchen dieselbe Stelle im Wald auf. Das Grab ist an einem der Ränder eingebrochen, und der Boden hat sich ein wenig mit Wasser gefüllt. Sie brauchen eine halbe Stunde, um wieder auf eine Tiefe von zwei Metern zu kommen.
Die Leiche rutscht mit einem sanften Rascheln in die Grube,ein dumpfer Aufschlag, dann ist es still. Kris und Tamara sehen sich kurz an, dann beginnen sie, das Grab zuzuschaufeln. Sie reden kein Wort und hoffen beide, diesen Schlafsack nie wiederzusehen. Als sie die Lichtung verlassen, scheint es, als wären sie niemals dort gewesen.
WOLF
Das Haus empfängt ihn wie einen alten Freund. Jeder Besuch ist eine Reise in die Vergangenheit. Kaum daß sich die Tür öffnet, umschließt Wolf ein Aroma aus Holz und Äpfeln, obwohl schon seit über einem Jahrzehnt niemand mehr Äpfel in der Speisekammer lagert. Zum Geruch kommen die Geräusche hinzu und wie sie in den verschiedenen Zimmern klingen. Das Knarren der Dielen, das Knacken der Heizung oder die nachhallende Stille, sobald die Türen geschlossen sind und die Ruhe sich wieder niederläßt. Gerüche, Licht, Raum und all die Spuren, die Menschen über die Jahre hinweg an einem Ort hinterlassen, an dem sie aufgewachsen sind. Wolf sucht bei jedem Besuch bewußt nach diesen Spuren. Er nennt es Nostalgie, Kris nennt es Frust. Seiner Meinung nach hat Wolf noch immer nicht verkraftet, daß ihre Mutter verschwunden ist.
– Sei doch mal ehrlich. Du wartest, daß sie eines Tages ins Haus zurückkehrt und dich zum Frühstück runterruft.
Wolf weiß, daß sein Bruder recht hat, er würde es aber nie zugeben. Ganz besonders nicht vor Lutger. Seit die Mutter sie verlassen hat, besteht der Vater darauf, daß seine Söhne ihn beim Vornamen rufen. Er hat ihnen erklärt, Vater wäre ihm zu förmlich.
Kris und Wolf haben das letzte Mal von ihrer Mutter gehört, nachdem die Scheidung vollzogen war. Sie hat sich mit einer farbenprächtigen Postkarte verabschiedet und ihnen alles Gute für ihr Leben gewünscht. Auf der Karte hatte auch ein Eddie unterschrieben. Als die Brüder wissen wollten, wer dieser Eddie sei, wechselte Lutger das Thema.
All das ist jetzt sechzehn Jahre her, und seitdem wird nicht mehr über die Mutter gesprochen. Doch obwohl auch Wolf sie mit keinem Wort mehr erwähnt, lebt die Mutter wie ein Geist weiter im Haus. Wann immer er seinen Vater besucht, glaubt er, ihre Bewegungen zu hören, ihr leises Summen im Bad, am Abend das Flüsternder sich schließenden Vorhänge, wenn sie im Erdgeschoß von Zimmer zu Zimmer ging, oder das sanfte Trommeln ihrer Fingerspitzen, während sie ungeduldig darauf wartete, daß der Kaffee durchgelaufen war. Ihre immerwährende Anwesenheit ist ein weiterer Grund, weshalb er gerne in das Haus seiner Kindheit zurückkehrt.
– Mensch, bin ich froh, daß du da bist.
Lutger verhält sich, als hätte er Wolf lange nicht gesehen. Dabei standen sie heute morgen auf Fraukes Beerdigung zwei Meter voneinander entfernt. Wolf weiß, was sein Vater meint. Als hätte uns Fraukes Tod getrennt und wieder zusammengeführt. Sie umarmen sich und halten aneinander fest. Aus der Küche kommt der Duft von frischgebackenem Brot und Chili.
– Du hast doch Hunger, oder?
Sie gehen in die
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