Sorry
und an einigen Stellen abblättert, sie sieht Staub auf den Wimpern des Toten, die Äderchen in den offenen Augen und den Blick, der im Nichts verschwindet. Kris sagt:
– Als ich das erste Mal mit Meybach gesprochen habe, hat er mich gefragt, ob wir uns die Tote richtig angesehen hätten. Er sagte, daß wir überall suchen könnten, die Antwort sich aber immer in den Augen verstecken würde.
– Du meinst, so was wie unsere Augen sind die Fenster der Seele .
– So was in der Richtung.
Tamara weicht zurück.
– Tut mir leid, ich sehe nichts.
– Es gibt auch nichts zu sehen, denn wir haben es hier mit einem Toten zu tun. Wohin auch immer seine Seele verschwunden ist, die Augen helfen uns da wenig ...
Kris verstummt und dreht sich um, als hätte ihm jemand auf die Schulter getippt. Er starrt auf die gegenüberliegende Wand, als ob er noch nie eine Wand gesehen hätte. Auch Tamara sieht es jetzt. Auf Augenhöhe ist mit einer Nadel ein kleines Foto an die Tapete gepinnt. Das Foto zeigt zwei Jungen auf der Straße, sie haben jeder einen Arm um die Schultern des anderen gelegt und balancieren auf ihren Fahrrädern. Ihre Füße berühren den Boden nicht.
Kris durchquert das Zimmer und löst die Nadel aus der Wand. Er hält das Foto mit spitzen Fingern, als wollte er es nicht dreckig machen. Tamara stellt sich neben ihn.
– Wie konnte uns das nicht auffallen? sagt sie.
– Wir hatten andere Probleme.
Kris zeigt auf den Kopf des Toten.
– Schau dir die Höhe an. Es ist eine Linie. Meybach wollte, daß seine Opfer das Foto auch im Tod noch sehen.
Kris hält das Foto auf Abstand, als könnte er auf diese Weise die Jungen darauf besser erkennen. Er dreht es um. Die Rückseite ist leer. Er schaut wieder auf die zwei Jungen und sagt:
– Wer seid ihr? Und was habt ihr hier nur verloren?
Nachdem Kris das Foto in seiner Brieftasche verstaut hat, holt er die Zange aus der Jacke. Tamara wendet sich ab.
– Ich warte draußen.
– He, was tust du?
– Ich sagte, ich - - -
– Tammi, du kannst nicht gehen, allein schaffe ich das nicht.
Wenn ich es allein schaffen könnte, hätte ich dich doch nicht mit genommen. Einer muß ihn hochhalten, damit das Gewicht ... Er tippt sich mit der Zange an die Stirn.
– ... vom Nagel genommen wird.
– Du willst, daß ich ihn anfasse?
Tamara kann hören, daß ihre Stimme schrill klingt.
– Von mir aus kannst du auch die Nägel rausziehen, falls dir danach ist.
– Kris, hör auf.
– Komm schon, Tammi, es geht schnell. Es sind ja nur zwei Nägel. Bitte, laß mich jetzt nicht hängen.
– Kris, das ist nicht witzig.
– Es war nicht witzig gemeint.
– Ich kann das nicht.
– Umfaß seine Hüften und heb ihn an, den Rest erledige ich.
Tamara tritt an den Toten heran. Sie legt die Hände an seine Hüften, spürt den Bauch und greift fester zu. Das Fett verschiebt sich, und ein Glucksen ist zu hören.
– Nicht loslassen, sagt Kris.
Tamara hat das Gefühl, daß ihr der Magen gleich hochkommt.
– Dreh mir jetzt bloß nicht durch.
Sie kann sehen, wie er dem Toten die Augen schließt.
– Geht es ein wenig höher?
Sie stützt die Leiche zusätzlich mit ihrer Schulter ab.
– So ist es gut.
Kris setzt die Zange an und flucht. Der Nagel sitzt tief in der Stirn. Er findet den Nagelkopf nicht, er drückt die Zange weiter in das Fleisch und ist erleichtert, daß kein Blut kommt. Die Zange trifft auf etwas Hartes und umfaßt den Nagelkopf.
– Okay, ich habe ihn.
Ein saugendes Geräusch ist zu hören, dann gibt es einen Ruck, und die Leiche rutscht ein Stück herunter. Tamara umklammert panisch die Hüfte des Toten und spürt, daß seine Hose naß ist. Kris stützt die Leiche mit seiner freien Hand.
– Er ist nur ein wenig runtergerutscht, sagt er. Ich hole jetzt - - -
– Bitte, hör auf zu quatschen und bring es zu Ende.
Kris läßt den Nagel auf den Boden fallen und stellt sich auf die Zehenspitzen, um an die zusammengelegten Hände zu kommen. Tamara starrt auf einen Fleck an der Fototapete und verschwindet darin. Das gute spießige Traumdeutschland der sechziger Jahre.
Wald mit Hirsch, See mit Bergen drum herum. Wieso diese häßliche Fototapete? Was geht nur im Kopf dieses Irren vor? Und wie lange will Kris noch da oben herumfummeln? Bitte, laß es schnell vorbei sein, bitte.
Tamara steht am Küchenfenster und atmet gierig die Nachtluft ein. Die Leiche liegt im Schlafsack, der Schlafsack liegt im Flur. Tamara kann Kris’ Stimme aus dem Wohnzimmer
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