SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
in der Wahrnehmung: »Ich bin allein auf der Welt, ich kann alles und jeden steuern und bestimmen.« Das erkennt man am besten in Anforderungssituationen: Wenn der Lehrer die Schüler auffordert, das Deutschbuch herauszuholen, würde ein grundschulreifes Kind das sofort machen, da es den Lehrer als menschliches Gegenüber erkennt. Heute muss der Lehrer hingegen Aufträge oft doppelt und dreifach geben, weil die Schüler auf die erste Aufforderung überhaupt nicht reagieren.
Anhand der Reaktion auf die Aufforderung, das Buch herauszuholen, kann man verschiedene Gruppen von Kindern erkennen. Die eine Gruppe wirkt wie abwesend, erst wenn der Lehrer ein Kind speziell auffordert, das betreffende Buch herauszuholen (»Sascha, DU auch!«), kommt es der Aufforderung nach. Mit der erneuten und gezielten Aufforderung hat der Lehrer sich allerdings bereits durch das Kind steuern lassen.
Die andere Gruppe fragt: »Wollen wir nicht lieber Mathe machen?« oder stellt die Frage, welches Buch denn nun gemeint sei. Auch hier leisten die Schüler der simplen Aufforderung des Lehrers erst nach mehrmaliger Wiederholung Folge. All das geschieht, weil die emotionale und soziale Psyche auf einem Stand von zehn bis sechzehn Monate alten Kleinkindern ist. Diese Kinder können selbst als Erstklässler noch nicht zwischen Mensch (lässt sich nicht steuern) und Gegenstand (lässt sich steuern) unterscheiden. Aufgrund ihres geringen Entwicklungsstands können diese Kinder sich nur lustorientiert konzentrieren und Leistung erbringen. Sie erkennen nicht, dass sie im Unterricht sitzen und sich dort anders verhalten sollten als in der Pause, ein Verhalten, das in der Pyramide normalerweise mit etwa zwanzig Monaten zu finden ist. Mit etwa zweieinhalb bis drei Jahren müssten sie bereits in der Lage sein, den Lehrer als Gegenüber zu erkennen. Aber auch das ist, wie beschrieben, nicht der Fall.
Für den Lehrer wiederum ist es wichtig, zu wissen, dass diese Kinder sich nicht verweigern, sondern ihr spezielles Weltbild unbewusst immer wieder überprüfen. In ihrem Weltbild ist der Lehrer ein Gegenstand, nicht anders als ein Tisch, ein Stuhl oder ein Automat. Man kann ihn dazu bewegen, den Auftrag mehrfach zu erteilen, somit ist das Weltbild bestätigt.
Hinzu kommt, dass diese Kinder nicht in der Lage sind, in Konflikten Zusammenhänge herzustellen. Wenn also ein Kind im Unterricht dazwischenredet und der Lehrer es deswegen ermahnt, kann es den Zusammenhang nicht erkennen, fühlt sich nicht verstanden oder ungerecht behandelt und wird deshalb nicht aus der Situation lernen können. Sein Verhalten wird ihm aus diesem Grund auch niemals peinlich sein.
Darüber hinaus ist ihnen das Erlernen der Kulturtechniken, Hauptbestandteil der Anfangszeit in der Grundschule, nicht wichtig, sie folgen dem Unterricht hier nur, wenn es ohne größere Anstrengung möglich ist.
Zu guter Letzt fehlt es ihnen an Empathie: Ständig ärgern sie ihre Mitschüler und machen sich über ihre Opfer auch noch lustig. Eine andere Ausprägung kann aber auch sein, dass diese Schüler sich selbst immer wieder zum Opfer stilisieren: Mit ihrem Verhalten provozieren sie, dass andere über sie herfallen, und merken nicht, dass sie selbst dazu beigetragen haben.
Hier ist ein sehr deutlicher Unterschied zur früheren Situation festzustellen. Bis etwa 1995 waren solche Verhaltensweisen nur selten der Fall. Wenn es doch einmal vorkam, lagen die Gründe dafür überwiegend in den jeweiligen Familien. Generell verhielten sich Grundschüler vor zwanzig oder auch mehr Jahren anders, weil sie den Entwicklungsstand von Sechsjährigen erreicht hatten. Die Schulkinder von damals sind die Erwachsenen und Eltern von heute, und diese Erwachsenen kennen die Situation in der Grundschule nur so, wie sie damals noch war: Im Großen und Ganzen funktionierte sie. Aus diesem Grund gehen diese Erwachsenen heute auch davon aus, dass sich Psyche wie von allein entwickelt: Mit drei Jahren ist die Kindergartenreife erreicht, mit sechs Jahren die Schulreife, mit sechzehn Jahren die Ausbildungsreife. Als wenn das ein für alle Zeiten festgeschriebenes Gesetz sei und kein entwicklungspsychologischer Vorgang, für den bei jedem Kind aufs Neue die Bezugspersonen verantwortlich sind.
Es ist jedoch kein Gesetz. Die Verantwortung für diese Entwicklung tragen einzig und allein wir Erwachsenen. Erwachsene sahen einfach damals Kinder noch als Kinder, ruhten in sich und verfügten über Intuition im Umgang mit Kindern.
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