SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
kommen neu in die Schule und in den Klassenraum hinein. Das ist ja auch mit vielen Ängsten und Unsicherheiten verbunden. Sie sollten wissen: Da ist eine Person, zu der kann ich hingehen, die hilft mir auch, wenn ich nicht weiterkomme. Deshalb habe ich sehr gute Erfahrungen damit gemacht, zunächst einmal mit den Kindern kleinschrittig am gleichen Thema zu arbeiten. Wir machen gemeinsame Aufgaben, die dann auch Pflicht sind. Ich führe sie ein, und die Kinder machen sie. Wir kontrollieren die Aufgaben auch gemeinsam und schauen, wo die Probleme sind. Dadurch bekommen die Kinder eine ungeheure Sicherheit. Sie wissen auch: Wenn wir damit fertig sind, gibt es noch Freiarbeitsmaterialien in der Klasse, die sich die Kinder nehmen können, die die Pflichtaufgaben geschafft haben. Dieses Pflichtprogramm ist aber für alle gleich. Das ist alles wie beim Häuserbau: Man fängt nicht mit dem Dachgeschoss an, macht dann den Unterbau, und zum Schluss versucht man sich vielleicht noch am Fundament. Die Basis muss erst mal da sein. Dazu gehört ganz viel Sicherheit der Kinder, Strukturen: wie ist der Ablauf, keine ständigen Überraschungen, von denen die Kinder verunsichert werden. Sie wissen jeden Tag von Neuem, was auf sie zukommt, und dann können sie auch reifen und sich in aller Ruhe auf die Dinge konzentrieren, die die Schule von ihnen verlangt – ohne Angst, ohne Stress. Es ist wichtig, dass sie die Lehrperson auch vorne sehen, dass sie also optisch immer da ist. Dafür ist es gut, wenn die Tische so stehen, dass die Kinder mich sehen können. Sie sollten freien Blick zur Tafel haben, zum jeweiligen Thema und nicht durch Gruppentische oder Ähnliches abgelenkt werden. An Gruppentischen wird in der Regel viel von allen herumgespielt, das macht es für viele Kinder schwierig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Deshalb stelle ich die Tische immer frontal zur Tafel, und die Kinder genießen das. Als ich die Tische einmal anders gestellt habe, kamen Kinder von alleine an und fragten, ob wir sie nicht wieder umstellen können. Es ist insgesamt durch unsere Abläufe eine große Ruhe in der Klasse. Das genießen die Kinder. Etwas offenere Arbeit kann man dann später immer noch einführen, muss sich aber ganz genau überlegen, ab wann es sinnvoll erscheint.«
Die Lehrerin setzt also voll und ganz auf ihre Bedeutung als Bezugsperson für die Schüler. Sie richtet die räumlichen Gegebenheiten und die Art des Unterrichts so ein, dass sie immer in direktem Kontakt bleiben und die Kinder auf sich beziehen kann.
Förderbedarf – früher und heute
Die oben skizzierten Entwicklungen im Hinblick auf immer freiere und partnerschaftlichere Konzepte machen sich nicht nur in der Regelschule, sondern auch in den Förderschulen negativ bemerkbar. Ich möchte an dieser Stelle aus meinem speziellen Blickwinkel des Kinderpsychiaters auf diese Institution schauen. Allgemein gesprochen nimmt eine Förderschule diejenigen Schüler auf, für die auf der Regelschule keine entsprechenden Erfolgsaussichten bestehen. Über die Art der Probleme, die die Schüler haben, ist damit noch nichts gesagt. Genau da liegt jedoch der Hase im Pfeffer.
Eine Förderschullehrerin schilderte mir in einer Mail, wie noch 1990 die Aufnahme und der Unterricht von Schülern an ihrer Einrichtung ablief:
»Regelschulen meldeten Schüler zur Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs, die alle immer einen deutlich unterdurchschnittlichen IQ aufwiesen. D. h., sie waren eindeutig aufgrund mangelnder kognitiver Fähigkeiten mit den Anforderungen der Regelschule überfordert. Die Lernbehinderung meist monokausal begründet. […] Mit diesen Schülern konnte man – auch in 15er- bis 20er-Gruppen – noch gut arbeiten. Sozial-emotional waren sie nur selten ernstlich gestört. Das Angebot einer abgespeckten Lehrplanversion in nur geringfügig kleineren Lerngruppen reichte als pädagogische Antwort meist aus, um diesen Kindern und Jugendlichen gewinnbringendes Lernen wieder zu ermöglichen. Hinzu kam, dass die meisten dieser Schüler in einem funktionierenden, sprich: unterstützenden familiären Umfeld aufwuchsen.«
Die Aussage der Lehrerin ist eindeutig: Für den Großteil der Schüler gab es noch in den Neunzigerjahren genau einen Grund, warum sie auf der Förderschule besser aufgehoben waren als in der Regelschule: eine unterdurchschnittlich entwickelte Intelligenz, die mit der gezielten Förderung in einer solchen Institution trotzdem »ausgereizt«
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