SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
ist im Interview mit der Grundschullehrerin, wer die eigentlichen Leidtragenden dieses seltsamen Vorgangs sind. Das sind eindeutig die Kinder! Sie profitieren nur auf den ersten flüchtigen Blick, weil sie gute Noten abräumen und einer glänzenden Schulkarriere scheinbar nichts im Wege steht. In Wirklichkeit erfahren diese Kinder nichts über ihren tatsächlichen Leistungsstand, die guten Noten lassen sie auf perfide Weise in dem Glauben, sie lieferten überragende Leistungen ab. Das führt zu einer Fehleinschätzung, denn das Kind meint, es könne mit relativ wenig Aufwand alles meistern. Auf diese Weise bildet sich kein Bewusstsein dafür, dass man die meisten Fertigkeiten im Leben erst durch intensives Üben und Lernen erlangt. Dazu kommt noch, dass diese Kinder um das Gefühl der Freude betrogen werden, das sich einstellt, wenn man etwas nach außerordentlich großer Anstrengung endlich geschafft hat und dann auch richtig gut kann. Diese tiefe Befriedigung dürfen Kinder, denen die Noten, wie im Interview geschildert, quasi geschenkt werden, nur selten spüren.
Das Fehlen eines bestimmten Anforderungsniveaus und der entsprechenden Resultate im Notenbereich tragen darüber hinaus dazu bei, dass Frustrationstoleranz und Arbeitshaltung der Kinder sich nicht vernünftig entwickeln können. Hier steckt ein fatal falsches Denken: Viele Erwachsene glauben, das Kind sei glücklicher, wenn ihm Frustrationen erspart blieben. Das mag für den kurzen Moment und oberflächlich betrachtet zutreffen, langfristig wird es den Menschen unglücklich machen, weil sich später, im Erwachsenenleben, Frustrationen nicht mehr von außen verhindern lassen.
Die Eltern dieser Kinder müssten eigentlich wissen, dass sie ihren Sprösslingen für die Zukunft keinen Gefallen tun, wenn sie ihnen jede Enttäuschung ersparen. Doch sie sind offensichtlich nicht mehr in der Lage, diesen Blick in die Zukunft zu werfen. Sie leben nur noch im Moment, Resultat der eigenen Überforderung, des Hamsterrades und der auf Katastrophenmodus eingestellten Psyche. Ich komme auf diese Komponenten immer wieder zurück, weil sie für das Verständnis dessen, worum es mir geht, so wichtig sind. Im Moment der Katastrophe reagiert der Mensch ganz automatisch nur noch auf diesen Moment gerichtet. Es zählt, was jetzt sofort getan werden muss, Zukunft kommt später. So handeln auch diese Eltern: Wichtig ist nur, dass das Kind jetzt im Moment gute oder sehr gute Noten im Zeugnis und in den Klassenarbeiten erhält. Ob es später einmal klarkommen wird, wenn es jetzt nicht die dafür notwendigen Dinge lernt, gerät vollständig aus dem Blick.
Neben dem Verhalten der Eltern gehen aus dem Gespräch mit der Lehrerin aber auch die Schwierigkeiten mit den Kindern selbst deutlich hervor. Allein die Aussage, sie brauche das erste Schuljahr größtenteils dafür, alle Kinder einigermaßen so weit zu bringen, dass inhaltlich geprägter Unterricht überhaupt möglich ist, zeigt, dass bei der Entwicklung der Kinder bereits frühzeitig, also weit vor dem Schulalter, etwas schiefgelaufen sein muss.
Die Zeit, die es dauert, um die Schüler schulreif zu machen, variiert in den Angaben, die ich von Lehrern erhalte. Manche erzählen »nur« von zwei Monaten, manche von einem halben Jahr. Eines ist jedoch auf jeden Fall klar: Die Vorstellung, dass am ersten Schultag mindestens 90 Prozent wirklich schulreife Kinder in einer Klasse sitzen, mit denen vom ersten Moment an sinnvoller Unterricht gemacht werden kann, ist heute geradezu absurd.
Lehrer beklagen immer wieder die gleichen Dinge: Kinder, die den Kindergarten verlassen, sind immer häufiger nicht in der Lage, grundlegende Anforderungen des Schulalltags zu meistern. Sie stehen mitten im Unterricht auf, rennen durch die Klasse, reden, wann es ihnen passt, nehmen den Lehrer bestenfalls als Entertainer wahr. Manche liegen mit dem Kopf auf dem Tisch, andere verstecken sich komplett unter dem Tisch. Warum der Lehrer eigentlich da vorne steht und auf die Klasse einredet, können sie nicht erfassen. Die Verantwortlichen in der Bildungspolitik nehmen diese Probleme, so scheint es, überhaupt nicht wahr.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal beschreiben, woran Kinder mit fehlender Entwicklung der emotionalen und sozialen Psyche zu erkennen sind: Sie können sich nicht auf das Gegenüber, ob nun Lehrer oder Eltern, einstellen, sondern versuchen entsprechend ihrem frühkindlichen Weltbild den Erwachsenen auf sich einzustellen. Sie leben
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