SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
nichts dagegen einzuwenden, wenn Kinder dazu angehalten werden, sich gegenseitig zu unterstützen. Die Pädagogen, die das Konzept entworfen haben, befürchteten allerdings wohl bereits eine logische kritische Folgefrage, sodass sie diese in vorauseilendem Gehorsam gleich selbst stellen und zu entkräften versuchen. »Lernt mein Kind auch genug, wenn es noch anderen helfen soll?«, lautet diese Frage, die folgendermaßen beantwortet wird: »Es soll erreicht werden, dass jedes Kind die Verantwortung für seinen eigenen Lernfortschritt übernimmt.« Und weiter: »Gegenseitiges Helfen umfasst nicht nur fachliche Inhalte, sondern vor allem auch soziales Lernen durch Unterstützung im Schulalltag.«
Hier wird sprachlich verschleiert, worum es eigentlich geht: Der Lehrer soll unwichtiger werden, nur noch als Mentor und Begleitung fungieren, den die Schüler im Zweifelsfall aktiv ansprechen sollen. Anders gesagt: Das Konzept nimmt tendenziell den Lehrer aus der Beziehung zu den Schülern heraus und ersetzt diese Beziehung durch die Beziehung zwischen Schüler und Schüler.
Der laienpsychologische Hintergrund bei Konzepten wie diesem ist der, dass man soziale Fähigkeiten durch Erziehen, also durch das bloße Erklären und Beibringen von Fakten, erwerben könne. Allerdings stimmt das so im Großen und Ganzen nicht. Soziale Kompetenz hat immer etwas mit dem Entwicklungsstand zu tun. Dieser jedoch wächst nur am Gegenüber in Form der wichtigsten Bezugspersonen, zu denen nun mal in der Schule die Lehrer gehören.
Dass psychische Entwicklung von sozialer Kompetenz (die ja im zitierten Beispiel sogar konkret angesprochen wird) nicht am gleichaltrigen Gegenüber funktioniert, ist eine entwicklungspsychologische Binsenweisheit. Das erwachsene Gegenüber »Lehrer«, an dem sich das Kind orientiert, müsste eigentlich in jedem pädagogischen Konzept gestärkt werden und im Vordergrund stehen. Stattdessen werden, wie auch hier, zunehmend Konzepte entwickelt, die den Lehrer an den Rand drängen und ihn als Bezugsperson für die Schüler langfristig überflüssig machen.
Was wir in den Grundschulen brauchen, ist ein lehrerzentrierter und nicht ein lernzentrierter Unterricht. Nicht die Wissensvermittlung ist entscheidend, sondern die Entwicklung. Da heute immer mehr Kinder keine Schulreife aufweisen, weil sie im wichtigsten Bereich unserer Psyche auf der Stufe von Kleinkindern stehen, müssen wir dringend sehen, wie wir diesen Kindern helfen können. Die heutigen bildungspolitischen Ideen in den Ministerien sind jedoch zumeist sehr stark lernzentriert und ignorieren die Berücksichtigung der emotionalen und sozialen Psyche fast komplett.
Das gilt analog für diverse weitere Grundschulkonzepte, wie etwa die Idee der Gruppentische. Hier gibt es zwei problematische Aspekte: Zum einen sitzt ein Teil der Schüler seitlich oder gar mit dem Rücken zum Lehrer, hat also keine Beziehung mehr zu diesem, zum anderen ist das Gegenüber des Schülers jeweils ein anderer Schüler. Die psychische Entwicklung jedoch erfolgt nur am Gegenüber des Lehrers, der den Schüler immer wieder auf sich bezieht und damit für Orientierung sorgt. Gleichaltrige Kinder sind kein Ersatz.
Jegliche Freiarbeitskonzepte sind sehr kritisch zu beurteilen, je jünger die Kinder sind. Ein neueres Beispiel ist die sogenannte Lerntheke. Die Unterrichtsmaterialien, also Schulbücher und anderes, liegen dabei auf einer Theke aus, und die Kinder sollen sich dort bedienen. Der Lehrer ist aufgefordert, sich im Hintergrund zu halten. Auch in diesem Konzept gibt es keine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Dazu kommt, ähnlich wie beim bereits beschriebenen »Café«-Konzept im Kindergarten, wieder die Verwechslung von Selbstbestimmung und Selbstständigkeit.
Wie einfach Schule positiv funktionieren kann
All diese Konzepte scheinen wohlüberlegt und werden mit viel Aufwand und Engagement umgesetzt, allerdings mit zweifelhaftem Erfolg. Dabei bedarf es gar keiner spektakulärer Maßnahmen, um die Ruhe und Entspannung in den Grundschulunterricht zu bekommen, die für die emotionale Entwicklung von Schulkindern notwendig ist.
Ich möchte hier ein einfaches positives Beispiel anführen, das mir eine Lehrerin per Mail beschrieben hat und das, wie ich finde, durchaus als Muster für angemessenes Verhalten dienen kann:
»Meiner Meinung nach ist es gerade am Anfang ganz wichtig, die Kinder erst einmal auf die Lehrperson zu beziehen. Wir kennen uns ja alle noch nicht. Die Kinder
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