SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
Ursache der unbewussten Veränderungen aufseiten der Erwachsenen ist eine Welt, die uns zunehmend überfordert. Der rasante Wechsel von der analogen zur digitalen Gesellschaft und die damit einhergehende Auflösung alter Strukturen, die dem Menschen Sicherheit und Halt gaben, haben auch unseren Blick auf Kinder verändert.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Schulanfänger mit ihren sechs Jahren lernen nicht, weil ihnen jemand gesagt hat, sie sollten das tun, damit sie später Erfolg im Leben haben. Sie lernen auch nicht, weil sie selbst bereits sehen würden, dass ihnen dieser Erfolg nur beschieden sein wird, wenn die schulischen Leistungen einigermaßen stimmen. Ein Sechsjähriger lernt um des Lernens und der Beziehung zum Lehrer willen. Er will lernen, so ist es in jedem Kind angelegt. Der Fachbegriff hierfür lautet »intrinsische Motivation«. Gleichzeitig sucht der Schüler die Bestätigung durch den Lehrer. Bestätigung durch die Eltern ist auch wichtig, fürs schulische Lernen jedoch spielt der Lehrer die wesentlich wichtigere Rolle. Das Schulkind braucht die Anweisungen des Lehrers als Orientierung. Wenn Eltern sich wohlmeinend einmischen, empfindet das Kind diese Einmischung nur als Störung dieser Orientierung, wie ich weiter vorne am Beispiel der kleinen Tochter eines Bekannten und ihrer Tränen wegen der zusätzlichen Mathematikaufgabe gezeigt habe.
Eine Überforderung für Kinder ist beispielsweise auch die Idee, ihnen das Maß an Hausaufgaben, das sie erledigen sollen, selbst zu überlassen. Man kann das an pädagogischen Konzepten sehen, die mit Wochen- oder gar Monatshausaufgaben arbeiten. Hierbei wird den Kindern ein Stapel Arbeit in die Hand gedrückt mit der Vorgabe, diesen bis zur kommenden Woche oder eben bis Ende des Monats zu erledigen. Das funktioniert allein in den Familien, in denen die Eltern anschließend die Strukturierung übernehmen und auf der täglichen Erledigung eines gewissen Quantums bestehen. Das Grundschulkind selbst wäre in der Regel mit dieser Aufgabe überfordert.
Pädagogisch steht hinter diesem Konzept der Gedanke des freien Lernens: Das Kind soll Selbstständigkeit üben. Was die Pädagogik dabei übersieht: Grundschulkinder, zumal Erst- oder Zweitklässler, die auf diese Weise arbeiten sollen, lernen keine Selbstständigkeit, sondern werden mehr oder weniger sich selbst überlassen. Das ist ein gewichtiger Unterschied, denn Letzteres bedeutet eine Vernachlässigung der Schüler. Da hilft es auch nichts, dass diese Vernachlässigung eigentlich gut gemeint ist.
Hinter der Idee des freien Lernens steht wiederum das Konzept »Kind als Partner«. In diesem Konzept werden die Begriffe »Selbstbestimmung« und »Selbstständigkeit« verwechselt. Ein Erwachsener mit einer gebildeten Psyche akzeptiert den ganzen Tag über wie von allein Fremdbestimmung, am stärksten normalerweise auf der Arbeitsstelle, weniger stark in der Regel innerhalb der Familie. Kinder sehen sich, wenn sie klein sind, so, dass sie sich und alles um sich herum selbst bestimmen. Sie können noch nicht eine Bestimmung von außen durch andere Menschen, also eine Fremdbestimmung, akzeptieren und aushalten. Die Psyche der Kinder entwickelt sich jedoch dadurch, dass sie mit zunehmendem Alter immer stärker Fremdbestimmung in angemessenem Rahmen erfahren und aushalten müssen. Passiert das nicht, bleiben sie selbstbestimmend. Normalerweise müsste der Erwachsene das erkennen und sich intuitiv abgrenzen. Das kann er jedoch nicht, wenn er das Kind als Partner sieht, denn durch diese Sichtweise erscheint ihm die Selbstbestimmung des Kindes plötzlich als Selbstständigkeit.
Das »freie Lernen« ist Bestandteil vieler moderner Schulkonzepte, von denen es aufgrund der Zersplitterung der Bildungslandschaft in Deutschland eine Unmenge gibt. Viele davon gehen meiner Ansicht nach den falschen Weg, wenn man sie von der kindlichen Psyche her analysiert. Eines dieser problematischen Schulkonzepte ist etwa die »jahrgangsübergreifende Eingangsstufe«. Hierbei werden die ersten beiden Klassen gemeinsam unterrichtet.
Es fällt im ersten Moment gar nicht so leicht, diese Art des Unterrichts zu kritisieren, denn auf den ersten Blick klingt das alles gut und toll. Im Konzept des niedersächsischen Kultusministeriums für diese Art des schulischen Lernens steht beispielsweise ein Satz wie dieser: »Die eingeschulten Kinder finden sich schnell zurecht, weil die Kinder aus dem zweiten Schuljahrgang helfen können.«
Nun ist
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