SOS Kinderseele: Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet - - und was wir dagegen tun können (German Edition)
werden konnte. Und, was im Zusammenhang mit dem speziellen Thema dieses Buches besonders wichtig ist: »Sozial-emotionale« Störungen konnten nur in seltenen Fällen festgestellt werden.
Dieselbe Lehrerin beschreibt die Situation im Jahr 2000, also nur zehn Jahre später, bereits so:
»Regelschulen meldeten zunehmend Schüler zur Überprüfung, bei denen, über die Lernstörungen hinaus, bereits im Meldebogen Verhaltensauffälligkeiten beschrieben wurden. In fast allen daraus entstandenen sonderpädagogischen Gutachten fanden und finden sich bis heute Sätze wie:
›…kann sich nicht in das Regelwerk der Klasse einfügen.‹
›…ist auffällig störanfällig … geringe Konzentrationsspanne und Ausdauer.‹
›…zeigt eine geringe Frustrationstoleranz.‹
›…ist mit der Größe der Lerngruppe überfordert.‹
›…benötigt zum erfolgreichen Lernen eine kleine, überschaubare Lerngruppe sowie sehr viel individuelle Unterstützung.‹
Die gemessenen IQ-Werte lagen dabei oft nur knapp unter dem Normbereich, eine deutliche Minderbegabung war also nicht mehr unbedingt erkennbar. Das Phänomen der Lernbehinderung war damit längst zu einem multifaktoriellen geworden. Viele Kinder konnten und können ihre tatsächlichen kognitiven Ressourcen aufgrund zunehmender sozial-emotionaler Störungen nicht mehr voll ausschöpfen.«
Der Unterschied ist frappierend. Diese Beschreibungen passen exakt zu meiner Beobachtung, dass seit spätestens Mitte der Neunzigerjahre das System zu kippen beginnt. Mit der Digitalisierung der Gesellschaft, dem sich immer schneller drehenden Hamsterrad, aus dem immer weniger Erwachsene aussteigen können, ändert sich die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwischen Pädagogen und Kindern. Schwierigkeiten in der Schule sind zunehmend nicht auf mangelnde Intelligenz zurückzuführen, auch wenn es das Phänomen natürlich nach wie vor gibt. Viel stärker in den Vordergrund rückt die Nichtentwicklung im Bereich der emotionalen Psyche der Schüler.
Liest man abschließend die Beschreibung des Zustands im Jahr 2010, so bestätigt sich auch hier meine bisherige Analyse, beispielsweise meine Feststellung, dass der Anteil der Eltern, die sich in einer Symbiose befinden, erheblich gestiegen ist. Die Lehrerin schreibt:
»Bereits Kitas melden Kinder zur Überprüfung, von denen im Meldebogen steht, dass sie in einer Regelschule nicht beschulbar seien. Wenn überhaupt, dann käme die Förderschule in Betracht. Der Amtsarzt teilt meist diese Auffassung, und das Verfahren zur sonderpädagogischen Begutachtung wird eingeleitet.
Oft waren beziehungsweise sind diese Kinder bereits in psychologischer oder gar kinderpsychiatrischer Behandlung, oder es wird eine entsprechende Diagnostik empfohlen. Hinzu kommen Ergotherapie, Logopädie, Frühförderung, eine Medikamentierung usw. Total übertherapierte Kinder sind für uns heute die Regel. Häufig wird bei diesen Kindern eine ›durchaus normale Intelligenz‹ angenommen, auf schulisches Lernen seien sie aber leider nicht vorzubereiten, weil überhaupt nicht zugänglich, nicht zu motivieren. Die Eltern sind meist uneinsichtig. Wenn überhaupt, dann seien die Erzieherinnen schuld an der Misere.«
Sehr viel deutlicher als mit dieser Zustandsbeschreibung kann man es eigentlich kaum machen. In Deutschland, wie auch in anderen Wohlstandsländern, wächst eine Generation von Schülern heran, in der überdurchschnittlich viele Kinder wirken, als seien sie (lern-)behindert, obwohl sie mit vollkommen normaler Intelligenz ausgestattet sind. Es ist ihre mangelnde psychische Reife, die verhindert, dass sie diese Intelligenz ausschöpfen. So kann aus einem in jedem Fall für die Regelschule tauglichen Schüler plötzlich einer mit Förderbedarf werden. Der allerdings landet nach den neuesten Plänen, und das ist dann endgültig verrückt, per Inklusion am Ende doch wieder in der Regelschule und verhindert dort einen sinnvollen Ablauf des Unterrichts.
Natürlich gibt es weiterhin Kinder, die kognitiv eingeschränkt sind. Der eigentliche Förderbedarf besteht heute jedoch eben gerade im Bereich der emotionalen und sozialen Reife. Hierfür müssten spezielle Fördermöglichkeiten entwickelt werden, die ein Nachreifen dieser Kinder ermöglichen.
Auf die Gründe, warum die emotionale und soziale Reife der kindlichen Psyche heute zunehmend nicht mehr dem eigentlichen Alter entspricht und unter welchen Umständen ein »Nachreifen« möglich ist, gehe ich
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