Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
bin, Schwesterherz. Oder wer mich umgebracht hat, wenn es denn so war. Ich erinnere mich nicht.«
Von all den Antworten, die Meggie mir hätte geben können, wäre ich auf diese niemals gekommen.
»Du bist ermordet worden«, sage ich sanft und dann muss ich schlucken, denn was, wenn es schon einen Verstoß gegen die Regeln darstellt, es einfach auszusprechen? Was, wenn der Strand nun jeden Moment in einem Strudel des Vergessens versinkt und meine Schwester und jede Spur von ihr mit sich reißt?
Aber ich kann sie immer noch neben mir atmen hören.
Atmen. Der Mörder hat ihr die Luft geraubt und doch ist sie jetzt hier und …
»Ja, das hatte ich mir auch schon gedacht, nach allem, was die anderen hier so erzählen. Sagen wir’s mal so, Altersschwäche ist hier nicht gerade die Todesursache Nummer eins.«
Ich versuche immer noch, das alles zu verstehen. »Leiden denn die anderen auch alle unter Amnesie?«
»Nein. Die meisten können erzählen, was sie gerade gemacht haben, bevor es passiert ist. Oder sogar, was für ein Gefühl es war …« Sie stockt. »Ich bin eher eine Ausnahme. Alles, was ich noch weiß, ist, dass ich mit Tim auf einer Party war. So ein Maskenball, ganz großes Kino, du weißt schon. Na ja, nicht ganz so groß, wie ich es mir gewünscht hatte. Wir haben uns gestritten.«
»Schlimm?« Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass Tim sich überhaupt mit irgendwem streitet. Er war doch immer so … friedfertig. Ich frage mich, ob Meggie ihn vielleicht provoziert hat. Klingt vielleicht nicht sehr loyal, aber als ihre kleine Schwester weiß ich ganz genau, wie gut die Nachtigall einen hinter den Kulissen in den Wahnsinn treiben konnte.
»Nein, glaube ich eigentlich nicht. Ich meine, jede Beziehung hat doch ihre Höhen und Tiefen, stimmt’s? Aber es war auf keinen Fall so schlimm, dass … Denken das die Leute? Dass er es war?«
Was soll ich ihr sagen? »Keiner weiß irgendwas.«
Meggie seufzt. »Ich habe mir solche Mühe gegeben, mich nicht mehr zu erinnern. Also, wir waren erst in dieser Bar, wo der Ball stattfand, und dann wollte ich weiter in einen Club, aber Tim meinte, wir sollten lieber früh nach Hause, weil doch am nächsten Tag dein Geburtstag war. So fing das an. Wie es zu Ende gegangen ist, weiß ich nicht mehr.«
Ich denke an die Bilder aus den Überwachungskameras, die sie in den Nachrichten gezeigt haben. Erst Meggie und Tim auf dem Weg zum Maskenball in der Bar des Studentenwerks, wie sie sich später draußen vor der Tür streiten und dann gemeinsam zurück ins Wohnheim gehen und schließlich eine letzte Aufnahme von Tim, wie er, viel später, allein in die Bar zurückkehrt. »Ihr seid gegen ein Uhr zusammen gegangen. Das ist das Letzte, was man weiß.«
»Ach, Scheiße.« Sie seufzt. »Wie, Florrie?«
»Wie was?«
»Wie bin ich gestorben?«
»Du wurdest … du wurdest erstickt.«
Sie keucht auf.
»Was ist? Oh, tut mir leid. Ich hätte es dir nicht sagen dürfen.«
»Nein, Florrie, ist in Ordnung. Das erklärt zumindest eins.«
»Was?«
»Ich hatte doch immer diese Albträume. Als Kind.« Ihre Stimme klingt zögerlich.
»Was denn für Albträume?«, frage ich, obwohl ich das schreckliche Gefühl habe, dass ich die Antwort bereits kenne.
»Na ja, lebendig begraben zu werden. Wie ich nach Luft ringe und immer mehr Erde über mir aufgehäuft wird und dass mich niemand hört.«
»Ach, Meggie.«
»Schon gut«, faucht sie und ich weiß, das ist eine Warnung: Wag es ja nicht, mich zu trösten.
Also blicke ich zum Horizont. Die Sonne beginnt unterzugehen, das Licht nimmt ein warmes Pfirsichrosa an und das Meer wirkt jetzt dunkler, beinahe grün. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Meggie?«
Zu meiner Linken höre ich ein Schniefen.
»Meggie, weinst du? Nicht weinen, bitte nicht. Ich bin ja da.«
Aber das Weinen hört nicht auf. Meine Schwester hat nie geweint. Noch nicht mal, als ihre Zahnspange angepasst wurde, oder als sie sich auf dem Trampolin unserer Nachbarn das Handgelenk brach, genau an dem Wochenende, bevor sie in der Schulaufführung von Les Misérables die Hauptrolle spielen sollte. Natürlich stand sie dann trotzdem als Cosette auf der Bühne, den Besen in einer Hand, den Gipsarm unter Lumpen verborgen. Auf keinen Fall durfte die Zweitbesetzung Meggie ihren Platz im Rampenlicht streitig machen.
»Ich wünschte, ich könnte bei dir sein«, sage ich, aber daraufhin weint sie nur noch heftiger. Und außerdem, was könnte ich denn schon tun, wenn ich
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