Soul Beach 1 - Frostiges Paradies (German Edition)
dort wäre? Ich bin keine große Trösterin. Im Gegenteil, ich bin diejenige, die ständig getröstet werden muss, ob Cara mich nun mit unanständigen Witzen ablenkt oder Dad die miesesten Zaubertricks der Welt aufführt oder Meggie mir Schlaflieder vorsingt …
Bei dieser Erinnerung kommt mir eine Idee. Ich habe es nie mit Singen versucht. Wieso sollte ich auch, wenn meine Schwester so begabt war? Aber im Moment leidet sie so sehr, dass ich jede Chance ergreife. Ich hole tief Luft.
»Amazing Grace, how sweet the sound …« Meine krächzende Stimme hallt in den Kopfhörern wider. Der Sound ist alles andere als sweet. Stattdessen versuche ich, einigermaßen harmonisch zu flüstern. »That saved a wretch like me.«
Zumindest hat Meggie aufgehört zu weinen. Ich mache weiter, erinnere mich Zeile für Zeile an den Text und denke daran, dass das ihr Lied war, der Song, der sie in die Schlagzeilen brachte, nachdem sie ihn in der zweiten Folge von Sing for your Supper so wunderschön gesungen hatte. Mit ihrer Inbrunst rührte sie alte Omas zu Tränen, auch wenn sie hinter den Kulissen herumwitzelte und anzüglich fragte, was genau an dieser Grace denn wohl so amazing war …
»I once was lost but now am found, was blind, but now I see.« Jetzt summe ich nur noch, weil ich den Text der zweiten Strophe nicht kenne.
Und Meggie übernimmt. »Through many dangers, toil and snares … we have already come. T’was Grace that brought us safe thus far … and Grace will lead us home.«
Bei dem Wort home stockt ihre Stimme leicht, aber wenigstens klingt sie wieder wie Megan, die Nachtigall, Forster. Ich brauche sie gar nicht zu sehen, denn sie zu hören reicht aus, um mich an alles zu erinnern, was an meiner Schwester wichtig war.
»When we’ve been here ten thousand years … bright shining as the sun. We’ve no less days to sing God’s praise … than when we’ve first begun.«
Als sie fertig ist, klatsche ich, die Hände dicht am Mikrofon des Laptops. »Wow, Meggie, deiner Stimme konnte es also nichts anhaben«, sprudelt es aus mir hervor.
»Was? Das Totsein?«
Ich sage nichts.
»Ich habe kein einziges Mal gesungen, weißt du?«
»Was?«
»Seit ich … hier bin. Nicht ein einziges Mal. Ist einfach nicht der richtige Ort dafür. Mich hier auf den Steg zu stellen und meine Diven-Nummer abzuziehen, da käme ich mir total blöd vor.« Jetzt ist sie wieder lustig, sarkastisch, normal. Einen Moment lang fühle ich mich besser, und dann, plötzlich, noch viel schlimmer. Sie sollte nicht versuchen, mich aufzuheitern. Sie ist doch diejenige, die tot ist.
»Du musst mir nichts vorspielen, Meggie. Du musst mich nicht mehr beschützen.«
Wieder Schweigen. Jetzt kann ich die anderen Leute definitiv hören. Waren sie immer da, im Hintergrund, und es hat nur so lange gedauert, bis ich die Geräusche einordnen konnte?
»Na schön, in Ordnung. Ich fühle mich beschissen, Florrie. Einsam. Und verzweifelt. Ich stehe jeden Tag auf und die Sonne scheint wieder mal perfekt, nicht eine Wolke am Himmel. Wie in diesem verdammten Song gerade: Wenn wir zehntausend Jahre hier gewesen sind. Vielleicht gibt es keinen Ausweg und ich habe das bisschen Leben, das ich hatte, verschwendet und es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.«
»Oh.« Ich will ihr sagen, wie viele Millionen Menschen sie vermissen und dass das doch wohl ein Beweis dafür ist, dass sie keine Sekunde ihres Lebens verschwendet hat. »Das tut mir so leid, Meggie. Hast du Schmerzen?«
»Nein. Hier tut niemandem körperlich etwas weh. Wir … Wie soll ich das ausdrücken? Alle hier sind heil. Unversehrt. Ein paar Leute sind wirklich auf schreckliche Weise gestorben, aber es ist noch nicht mal ein zerrissenes T-Shirt zu sehen. Zerrissene Jeans schon hin und wieder, aber das ist dann Absicht.«
»Gut.« Erst jetzt stelle ich mir vor, wie dieser Ort aussehen würde, wenn die Leute dort nicht unversehrt wären – ein ganzer Strand voller Toter, deren Körperteile schlaff herunterhängen oder ganz fehlen, deren Blut in den Sand tropft. Ich versuche, das Bild aus meinen Gedanken zu verbannen und mir stattdessen Fragen einfallen zu lassen, die mir helfen zu verstehen, zu sehen. »Wie viele sind denn alle hier ?«
»Ich weiß nicht. Manchmal kommt es mir nur vor wie ein paar Dutzend, manchmal wie Hunderte. Der Strand, na ja, der hört nirgendwo auf. Guck selbst.«
Ich drehe die Maus um dreihundertsechzig Grad. Alles, was ich sehe, ist türkis und golden, wie die prachtvolle
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