Soul Kitchen
gekommen war. Ein paar Monate, nachdem ein uralter Baum das Haus während eines Unwetters zertrümmert hatte, war er dort eingezogen. Wenn es regnete, zog sich der Eremit mit der Ziege hinter die einzige Tür in eine riesige Vorratskammer zurück, in der er auch schlief. Dimosthenis verbrachte viel Zeit mit ihm und zeichnete ihn häufig. Obwohl der Eremit nie sprach, hielt Dimosthenis ihn – abgesehen natürlich von sich und seiner Frau – für den einzig intelligenten Menschen auf der Insel.
Nach Dimosthenis’ Tod begann Tante Eleni noch mehr Früchte in Sirup einzulegen. Sie sagte, sie sei glücklich, dass alles so gekommen sei. Sie hätte, auch wenn Dimosthenis am Leben geblieben wäre, niemals ihre Insel verlassen. Er hatte oft davon gesprochen, nach Athen zu ziehen, um ein berühmter Künstler zu werden. Tante Eleni glaubte, Poseidon habe entschieden, ihre Liebe sollte ewig sein. Sie war überzeugt, er habe dafür gesorgt, dass Dimosthenis nie das Festland erreichte.
Viele, sogar jüngere Männer bemühten sich nach Dimosthenis’ Tod um Tante Eleni. Aber nicht mal auf die beharrlichen Avancen des hübschen Postboten Andreas ging sie ein. Dabei hatte er die stattlichste Nase aller Inselbewohner. Und er schnitt sich als Einziger regelmäßig die Nasenhaare. Der verliebte Postbote war so verzweifelt, dass er Tante Eleni manchmal die Post anderer brachte. Viele Nachbarn waren verärgert. Man solle ihr bloß nicht schreiben, betonte Tante Eleni stets. Andreas liebte Tante Eleni irgendwann so sehr, dass er aus diesem Grund Junggeselle blieb. Tante Eleni freundete sich später immerhin mit ihm an, anstatt ihn zu heiraten – was Zinos’ Mutter unmöglich fand. Es gehöre sich nicht für eine Frau, mit einem Mann befreundet zu sein, noch dazu mit einem, der nicht nur nachts von ihr träumte!
Zinos kam jeden Sommer noch dicker aus den Ferien, weil seine Mutter Tante Elenis durchzuckertes Obst für gesunde Süßigkeiten hielt.
Illias kehrte dünn und drahtig nach Hamburg zurück, weil er jedes Mal aufs Neue innerhalb eines Tages zum Anführer aller Inselkinder aufstieg und täglich bis zum späten Abend bei abenteuerlichen Streifzügen voranschritt. Es ging über die Klippen, an den schmalen Serpentinen entlang oder durch die Berglandschaft. Zinos war selten dabei, denn vor Steilklippen, Skorpionen und Schlangen fürchtete er sich ebenso wie davor, von einem der drei Autos erfasst zu werden, die es damals auf der Insel gab.
Um Illias sorgte sich ihre Mutter nie, aber als Zinos morgens einmal zu spät vom Bäcker zurückkam, weinte sie vor Sorge. Mit Obst und Gemüse beladene Maultiere hatten ihm den Weg versperrt. Während Zinos sich ihrem Tempo anpasste, hatte er verträumt das ganze Weißbrot aufgegessen, wofür er von der verheulten Mutter ein paar Ohrfeigen bekam.
Manchmal, wenn Illias abends eine Versammlung hinter der Kaimauer am Hafen abhielt, kam Zinos auch dazu. Er wollte in der Nähe eines bestimmten Mädchens sein. Vassiliki hatte hellere Haare und dunklere Haut als alle anderen; sie trug immer enge Jeans und bauchfreie T-Shirts. Manchmal sah er sie mit ihrer Familie in der Kirche; dann trug sie Kleider und Zöpfe.
Bald war sie mit einem Fünfzehnjährigen aus Athen zusammen. Sie saß nun immer abseits mit ihm. Die anderen machten laut Witze übers Küssen, und Zinos’ Eifersucht wurde so schlimm, dass er bald noch mehr Zeit allein verbrachte.
Manchmal blieb er den ganzen Tag bei Tante Eleni in der Küche und sah ihr versunken bei der Arbeit zu.
Tante Eleni tauschte ihre Früchte bei den Nachbarn gegen andere Lebensmittel oder Gegenstände. Sie verkaufte die kandierten Früchte an das Kafenion oder an den Eismann einer größeren Nachbarinsel, der nur dafür einmal im Monat vorbeikam. Ihren Verdienst bewahrte Tante Eleni in einem großen Lederkoffer mit Fahrradschloss unter dem Bett auf. Den hatte Zinos’ Familie ihr geschenkt, als Dimosthenis gestorben war. Sie sollte nach Deutschland zu Besuch kommen, wann immer sie wollte. Also nie.
Die Touristen blieben nie lange auf der Insel. Nur ausgewanderte Verwandte verbrachten den ganzen Sommer dort. Die Touristen waren vor allem Wandertouristen, die schnell alles abgelaufen hatten, Jugendliche mit riesigen Rucksäcken, die die Partys vermissten, und Bildungsreisende, die, enttäuscht über die Abwesenheit von Sehenswürdigkeiten, immer wieder die einzige Kirche besuchten, die kleiner war als das Kafenion am Hafen. Abreisen konnte man aber nicht so
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