Soul Kitchen
Kafenion über nichts anderes. Obwohl oder vielleicht gerade weil die Insel so klein war, hatte sie einen auffälligen Namen, den aber keiner aussprechen konnte: Miostollorikiossinissossios. So oder so ähnlich hieß der Fleck im Meer, aber alle sagten nur M. oder Die Insel mit dem Namen, dann wusste jeder, der sie kannte, was gemeint war. Es gab dort keinen Vulkan, keine besonders hohen Berge, nicht mal ein Erdbeben über fünf hatte es dort je gegeben. Zinos erinnerte sich vor allem an alte Menschen; die jüngsten waren so alt wie seine Eltern oder noch Kinder. Alle jungen Leute hauten ab, sobald sie konnten, und die anderen waren nur vorbeiziehende Touristen. Das war genau der richtige Ort, um alt zu werden. Tante Eleni hatte ihn und Illias immer fest gedrückt, wenn sie ankamen, und noch fester, als sie wieder abreisten. Übers ganze Gesicht strahlte sie dabei, und sie weinte auch ein bisschen. Zinos hatte sich immer gefragt, ob sie traurig gewesen war – oder einfach nur erleichtert.
Er hoffte, Tante Eleni würde auch heute am Hafen warten, obwohl sie ja nichts von seiner Ankunft wusste. Vielleicht vermietete sie ein Zimmer und warb dafür mit einem Foto. Vielleicht hatte sie doch wieder geheiratet und Kinder bekommen. Die Fähre näherte sich der kleinen Kaimauer. Zinos sprang als Erster von Bord.
Er zündete sich eine Zigarette an und betrachtete die Tafel, auf der der Name der Insel stand. Fast die ganze Farbe war abgeblättert, nur das große M war noch vollständig. Eine alte Frau schimpfte über das Rauchen, baute sich vor ihm auf, nahm aus ihrem Korb eine riesige frische Feige und hielt sie ihm entgegen. Zinos warf die Zigarette auf den Boden und aß unter ihrer Aufsicht die ganze Feige mitsamt der Schale auf. Sie streckte sich und kniff ihm in die Wange, dass es schmerzte. Daran erkannte er Sevastiana; er hatte damals immer Angst vor ihrem Wangengekneife gehabt. Sie tat es andauernd, egal, ob sie einen herzte oder strafte. Meist drehte sie das Stück Wange zwischen Daumen und Zeigefinger auch noch um, sodass der Schmerz kaum auszuhalten war. Es tat immer noch weh, nachdem er seinen Zigarettenstummel aufgehoben hatte und sie daraufhin zufrieden davonschritt. Sie drehte sich noch mal um, und fragte, was er nach so vielen Jahren hier mache. Urlaub, sagte er, er wolle bloß Urlaub machen.
Tante Eleni musste ja nicht sofort erfahren, dass er vorhatte, für immer zu bleiben. Da seine Eltern und die anderen Verwandten in einem Dorf lebten und Illias im Gefängnis saß, würde er eben den Rest seines Lebens in der Obhut von Tante Eleni verbringen und so fett werden, wie er konnte. Vielleicht würden sie zusammen einen kleinen Laden eröffnen; während der Arbeit könnte er Sirup mit Früchten essen und Sirup ohne. Vielleicht würden sie Filialen in Athen eröffnen, und Angestellte würden die Geschäfte regeln. Dann könnten sie irgendwann einmal Sirupfrüchte in die ganze Welt exportieren. Erst aber musste Zinos etwas frühstücken.
Andreas fuhr auf seinem Mofa an Zinos vorbei. Er hatte eine Trillerpfeife um den Hals baumeln, seine Haare waren grau. Zinos zog seinen Rollkoffer hinter sich her und lief in Richtung Kafenion. Der kleine Koffer kippte auf dem unebenen, löchrigen Asphalt ständig um. Das eine oder andere Haus an dem kleinen Hafen hatte einen neuen weißen Anstrich bekommen. Das Kafenion nicht. Dort saßen die gleichen Männer wie damals, nur Stellos war nicht mehr da. Er war in Thessaloniki von einem Auto überfahren worden, als er seine Tochter besuchen wollte. Sein Sohn hatte seinen Platz im Kafenion eingenommen.
Zinos bekam in Sirup eingelegte Sauerkirschen in einer kleinen silbernen Schüssel serviert. Es war die Spezialität seiner Tante. Erst als er alles aufgegessen hatte, servierte einer der Stammgäste ihm einen Mokka. Die Süße der Kirschen sättigte ihn, und der Mokka, den er langsam trank, hellte seine Stimmung auf. Wenn die Männer berichteten, was sich seit seinem letzten Aufenthalt auf der Insel zugetragen hatte, kam Zinos nicht ganz mit. Lange hatte er kein so schnelles, eigenwilliges Griechisch mehr gehört, und auch das Sprechen fiel ihm noch schwer. Denn selbst wenn seine Eltern Griechisch mit ihm gesprochen hatten, hatte er meist auf Deutsch geantwortet.
Im Kafenion führen die Männer sich auf wie ein Orchester. Das Durcheinander ist bestens organisiert, man kann alles verstehen, alles passt zueinander. Alle erzählen alles zusammen, die gleichen Geschichten, im
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