Soul Screamers 1 - Mit ganzer Seele
Nachtschlaf den Wundern der Chemie verdankte, waren die leicht verquollenen Augen. Doch in einer Stunde würde davon bereits nichts mehr zu sehen sein.
Als ich das letzte Mal eine von den Zombie-Pillen geschluckt hatte, hatte ich danach ausgesehen, als wäre ich im Schlaf von einem Laster überrollt worden.
„Danke“, sagte ich barsch und griff nach dem Telefonhörer, den sie mir hinstreckte. Sophie nickte wortlos und tappte ohne ihre sonst so aufreizende Art den Flur hinunter.
Ich warf die Tür mit dem Fuß zu und drückte das schnurlose Telefon ans Ohr. Im Vergleich zu meinem Handy fühlte es sich schrecklich klobig an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das normale Telefon zum letzten Mal benutzt hatte.
„Du hättest mich auf dem Handy anrufen können“, sagte ich in den Hörer.
„Ich weiß.“ Die Stimme meines Vaters klang genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte: tief und sanft, ein wenig kühl. Er sah wahrscheinlich auch noch genauso aus wie damals. Ihn hingegen würde mein Aussehen ziemlich überraschen, auch wenn er wusste, dass viel Zeit vergangen war. Das letzte Mal, als wir uns gesehen hatten, war ich knapp fünfzehn gewesen. Seit damals hatte sich vieles verändert. Ich hatte mich verändert.
„Aber diese Nummer kenne ich auswendig, deshalb war es einfacher“, fügte er hinzu. Was in der Sprache eines Rabenvaters so viel hieß wie: Mir ist peinlich zuzugeben, dass ich deine Handynummer vergessen habe, obwohl ich jeden Monat die Rechnung bezahle.
„Lass mich raten.“ Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl und schaltete den Computer ein, um mich abzulenken. „Du kommst nicht.“
„Natürlich komme ich!“, erwiderte er missbilligend. Erst jetzt fielen mir die Hintergrundgeräusche auf. Ich hörte eine Lautsprecherdurchsage, dann Gesprächsfetzen und hallende Schritte.
Er war am Flughafen.
„Mein Flug hat wegen eines Triebwerkschadens Verspätung. Ich bin in Chicago, aber mit etwas Glück schaffe ich es bis heute Abend. Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich verspäte.“
„Oh, okay.“ Wie gut, dass ich ihn nicht gleich zur Rede gestellt hatte. „Dann sehen wir uns heute Abend.“
„Ja.“ Es folgte ein langes Schweigen. Mein Dad wusste nicht, was er sagen sollte, und ich hatte keine Lust, es ihm auch nur ein Stück leichter zu machen. Schließlich räusperte er sich. „Geht es dir gut?“ Ich hörte ihm an, dass er noch mehr sagen wollte, sichjedoch nicht traute, es auszusprechen.
„Mir geht’s gut.“ Und wenn nicht, könntest du ja eh nichts daran ändern, dachte ich. Ich bewegte die Maus über das Mousepad, um den Cursor auf dem Bildschirm sichtbar zu machen. „Es ist alles noch etwas gewöhnungsbedürftig, aber ich bin bereit, alle Geheimnisse ans Licht zu bringen.“
„Mir tut das alles so leid, Kaylee. Ich weiß, dass ich dir die Wahrheit schulde, aber es fällt mir schwer, darüber zu reden. Bitte hab etwas Geduld mit mir.“
„Was bleibt mir denn anderes übrig!“, erwiderte ich aufgebracht. Doch so zornig ich auch darüber war, dass mein ganzes Leben aus einer Lüge bestanden hatte: Ich wollte unbedingt erfahren, warum sie mich angelogen hatten. Es musste einen guten Grund dafür geben, dass sie mich lieber in dem Glauben gelassen hatten, ich wäre verrückt, anstatt mir reinen Wein einzuschenken.
Ich hörte meinen Vater seufzen. „Darf ich dich zum Abendessen einladen, wenn ich ankomme?“
„Ich muss ja sowieso was essen.“ Ich öffnete den Internet Browser und tippte den Namen des lokalen Nachrichtensenders in die Suchleiste. Vielleicht gab es ja eine neue Meldung.
Mein Vater sagte lange nichts, wahrscheinlich wartete er darauf, dass ich noch etwas sagte. Eigentlich wollte ich auch mit ihm reden und ihm das schreckliche Schweigen ersparen, unter dem ich so lange gelitten hatte. Doch ich widerstand der Versuchung. Die eine oder andere Weihnachtskarte und ein gelegentlicher Besuch zum Geburtstag waren nicht genug, um sich einen Platz in meinem Leben zu sichern. Besonders weil auch diese Dinge irgendwann ausgeblieben waren …
„Wir sehen uns heute Abend“, sagte er schließlich.
„Okay.“ Ich legte auf und starrte ein paar Sekunden blind auf den Hörer. Dann holte ich tief Luft – ich hatte unbewusst den Atem angehalten – und überflog die Schlagzeilen im Internet. Bis mein Vater in der Tür stehen würde, wollte ich so wenig wie möglich an ihn denken.
Es gab keine Neuigkeiten über Alyson Baker oder Meredith Cole, aber der
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