Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
versteht sofort.
La Russe? Welche Russin suchst du? Du meinst wohl
La Ruche?
Er zeigt ihm auf seiner Handfläche, wo er hinmuss, nicht nach Norden, ins Bateau-Lavoir, wo Picasso sich eingenistet hat, er streicht den Norden durch. Die Lebenslinie der Hand ist die Seine, sie schneidet die Stadt entzwei, also immer nach Süden, er versteht nur
Momparnass
und
Woschirar
, frag dich von dort aus weiter. Er wundert sich nicht, dass er auf einen Maler trifft, er denkt, hier sind alle Maler, ich bin jetzt im Paradies der Malerei, in schmutzigen, nach Urin stinkenden Straßen voller Pferdekot, aber dort. Er irrt stundenlang durch die Straßen und kommt um zwei Uhr morgens vor das eiserne Gittertor.
In seiner Vorstellung sind Kiko und Krem schon seit einer Ewigkeit in der Stadt, obwohl der Abschied in Wilna nur Monate zurückliegt. Sie haben einen gewaltigen Vorsprung. Wer einen Tag früher im Paradies ankommt, den kann man weniger daraus vertreiben.
Krem und Kiko freuen sich, Wilna ist fern, sie sind am endgültigen Ziel. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten, wird mitten in der Nacht zu Tisch gebeten, wo fünf oder sechs Kumpane schon Platz genommen haben und den zugereisten Maler mustern. Kaum hat er sich gesetzt, stürzt er sich auf die Schale mit den gekochten Kartoffeln, putzt alles weg und bittet um ein Stück Brot. Die andern haben keine Zeit gehabt zuzugreifen und blicken traurig in die Runde.
Es ist der Bandwurm, stammelt der Neuling.
Er ist niemals satt. Noch nie haben sie einen solchen Hunger gesehen. Er wird an diesem Ort Mahlzeiten malen, mit Brot und Heringen, er wird sie anflehen, ihn satt zu machen. Endlich satt, für einmal satt, für immer satt. Das Hungergefühl bleibt auf der angebettelten Leinwand gefangen. Magere Fische, eine Lauchzwiebel, schrumpelige Äpfel, Suppentopf und eine zerfetzte Artischocke, die er unter einem Marktstand aufgelesen hat. Noch nie haben sie einen solchen Hunger gesehen.
Wo liegt er jetzt, auf welcher alten, fleckigen Matratze, aus der zwei Sprungfedern schräg hervorquellen? Von den Ärmsten des Vaugirard-Viertels auf den Gehsteig gekippt und von den verlausten Malern in den Bienenstock getragen. Oder liegt er auf einem Brett, das abends in Kikos Atelier zwischen zwei Stühle gelegt wird? Auf einer Bahre, in einen Leichenwagen geschoben? Es ist ihm gleichgültig, er ist zwanzig. Er entfernt sich auf einen andern Stern, der Paris heißt. Man erwartet ihn zur Operation.
Der Bienenstock ist eine Welt für sich, er begreift es rasch, als Krem ihm seine Geschichte erzählt. Sie klingt wie ein Märchen. Der gute Bildhauer Alfred Boucher kommt aus einer Wolke hervor in einer Kutsche, die ihm die rumänische Königin geschenkt hat, als Dank für die prachtvolle Büste, die er von ihrer Majestät geformt hat. Er hat von den Künstlerwohnstätten und Ateliergemeinschaften in Paris gehört, und sein Traum weiß, was er will. Sucht sich ein Gelände in den Schmutzpfützen der Vaugirard-Gegend. Ein Ödland aus Unkraut, Gerümpel, Geröll. Keiner will den Dreck haben, der Grund ist billig. Gerade mit dem großen Preis der Weltausstellung von 1900 dekoriert, kauft er, kaum ist sie abgebaut, lauter Bruchstücke von Pavillons zusammen, die verschleudert werden, Balken, Bretter, Eisenschrott, Fensterrahmen. Mit den Resten der Welt, aus dem Pavillon der Frau, aus den Bauten von Peru und Britisch-Indien, baut er sein armseliges Künstlerparadies, das er
La Ruche
nennt, den Bienenstock. Der Pavillon der Bordeaux-Weine, dessen Metallgerüst von Gustave Eiffel konstruiert wurde, ist das Herzstück.
Der Verrückte mit dem riesigen Turm?
Genau der. Das Ganze gleicht einem riesigen Backstein-Bienenstock, die kleinen, auf das zentrale Treppenhaus des Rundbaus zulaufenden Ateliers aber werden von den Malern Särge genannt.
Soutine hört Krem mit offenem Mund zu. Bis er seinen eigenen Sarg bekommt, vergeht die Zeit.
Boucher will sich die Ateliers als Wabenzellen eines Bienenstocks der Künstler vorstellen, die vereint sind in gemeinsamer Arbeit, den goldenen Honig der Kunst hervorzubringen. In seiner Tasche steckt ein Buch, von dem er sich nicht mehr trennen will: Maurice Maeterlinck, DAS LEBEN DER BIENEN. Die Miete ist so gering, dass sie fast zu verschwinden droht. Und die Verschläge ohne Wasser und Gas, zwischen Urin- und Terpentingerüchen, fauligem Holz und Kotze sind seine Idealstadt. Dunkel ist es im Bienenstock, Korridore voller stinkender Müllhaufen. Nur Kerzenlicht und
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