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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dutli
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Petroleumfunzeln. Manchmal weht ein Geruch von aufgebrochenem Fleisch und Tod herüber von den nahen Schlachthöfen. Süßliches fransendes tötelndes Aroma.
    Das Paradies wird immer armselig sein, wissen Sie. Es liegt neben den Schlachthöfen. Soutine kommt beim einen unter und beim andern.
    Einen Monat nach seiner Ankunft in Bouchers bizarrem Bienenstock, im Juli 1913, kommt Kiko ins Atelier gestürzt, es ist schon gegen Mitternacht, außer Atem. Er hebt schwungvoll seinen rechten Arm wie ein Dirigent und verkündet:
    Chaim, anziehen, rasch, wir gehen in die Oper!
    In die Oper? Du hast wohl getrunken. Wypil, schto li?
    Es ist der Vorabend des 14. Juli, des Nationalfeiertags der Franzosen. Kiko hat von irgendwem auf der Straße erfahren, dass es an diesem Ehrentag eine kostenlose Aufführung von Hamlet gebe. Ein gesungener Hamlet, eine Hamlet-Oper. Er weiß noch, wie aufgeregt sie waren. Dass sie es genossen haben wie einen Rausch. Sie fragen nicht, sie rennen hin, er hat nicht einmal sein farbverspritztes Zeug ausgezogen. Stellen sich um vier Uhr morgens für die Freikarten an, albern auf dem Gehsteig, betteln Zigaretten, und einer gibt ihnen einen Schluck aus einer Flasche Rotwein. Sie spüren keine Müdigkeit, als ob das Warten schon Genuss wäre. Die Schlange auf dem Gehsteig scheint endlos, nie würden sie alle in die Opéra passen.
    Kiko spricht es aus, das magische Wort. Kremen will selbst die Sprache der Kindheit vergessen, setzt zwei französische Akzente auf seinen Namen und will nur noch Krémègne heißen. Sie stehen plötzlich auf den breiten Aufgangstreppen mit den riesigen Laternen links und rechts, fühlen erregt jede Stufe, die sie der Kasse näherbringt, voller Bangigkeit, dass das Doppelfenster zugeschlagen werden könnte: Alle Karten sind schon ausgegeben, versuchen Sie es nächstes Jahr wieder! Aber nein, sie bekommen die Karten, halten sie in den Händen wie einen kostbaren Schatz, und in der Erinnerung verschmilzt die Nacht davor und das große Spektakel miteinander.
    Er erinnert sich jetzt im Leichenwagen nur an ihre blinde Erregung, den grünen und rosa Marmor, den roten Samt, die gewaltigen Lüster. Sie versuchten, von einer Tafel die Geschichte zu entziffern, das Glück des fünfunddreißigjährigen, völlig unbekannten Architekten Garnier, der sich gegen alle Konkurrenten durchsetzte, sie erkennen den Namen von Napoleon III., lesen
Second Empire
und ihnen unverständliche Dinge. Sie bewundern die Arkaden und Statuen außen am Tempel, den Tanz, den sie darstellen.
    Als hätte er die Oper nur für uns gebaut, das größte Theater der Welt, tausend Stockwerke hoch, ein neuer Turm von Babel, und wir plötzlich mittendrin.
    Als sie ins Innere gelangen, blendet sie der riesige tonnenschwere Lüster in der Mitte, wie Tausende von Sterne hing er über ihnen, bis er endlich verlosch. Hamlet erleben sie in Ohnmacht, sie vergessen zu atmen. Als die Vorstellung vorüber ist, gehen sie langsam in diesem zitternden Menschenstrom hinaus, setzen sich auf den Gehsteig gleich bei der Riesentreppe, erschlagen vor Freude und Erregung, sie können minutenlang kein Wort sprechen. Es ist, als ob Paris sie begrüßt hätte mit diesem Hamlet, von dem sie kein Wort verstanden. Als hätte die Stadt ihnen die Hand gedrückt und sie willkommen geheißen. Er war es, der zu Kiko sagte:
    Wenn wir in dieser Stadt nichts zustande bringen, sind wir wirkliche Nichtsnutze, verstehst du. Zu gar nichts zu gebrauchen.
    Und Kiko plötzlich ernst:
    Die Republik, Chaim, hat uns zu Hamlet eingeladen. Hast du verstanden? Hier gibt es keine Kosaken. Keinen plündernden Mob. Irgendwann werden die Pogrome aus unsern Träumen verschwinden. Aber dieser Abend wird uns für immer gehören. Nie wird es in dieser Stadt Pogrome geben, verstehst du …
    Und im Leichenwagen zuckt er zusammen, als er die Prophezeiung hört. Sie sprechen von Minsk und Wilna, sie lachen auf, so weit entfernt scheint ihnen jene Welt, der sie endgültig entkommen sind, sie wissen, dass es eine Rückkehr nie wird geben können. Selbst das ziegelrote Wilna liegt jetzt auf einem andern Stern. Und alles dort kommt ihnen schäbig vor gegen diesen Hamlet. Ein paar Fetzen von Liedern sind geblieben.
    Sol sajn, as ich boj in der luft majne schlesser.
    Sol sajn, as majn got is in ganzen nischt do.
    In trojm wet mir lajchter, in trojm wet mir besser,
    In trojm is der himl mir blojer wi blo.
    Und Kiko, der Glückspilz, wird mit Rosa zwei Kinder haben, farbige Landschaften

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