Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
soll ich nur tun mit ihm, er ist krank, will nicht Schuster oder Schneider werden, nur zeichnen und kritzeln. Er läuft weg in den Wald. Er ist eine große Sorge.
Er soll bei Solomons Schwager, der auch Schneider ist, nach Minsk in die Lehre. Aber er stellt sich viel zu ungeschickt an. Nadel und Faden? Ein ganzes Leben an Nadel und Faden? Nicht seins. Er wird zu einem Photographen gesteckt, soll er wenigstens das Retouchieren lernen. Aber auch das ist es nicht. Die Photos wissen nichts von seinem Geheimnis. Aber dort in Minsk gibt es einen Herrn Krüger, der Privatstunden im Zeichnen gibt und Erfolg in drei Monaten verspricht. Es muss das Jahr 1907 sein, er ist sich nicht mehr sicher. Sein Freund Mischa Kikoïne, der aus Gomel, ist auch schon da. Sie wollen zeichnen, zeichnen.
Sein erstes Geld ist Schmerzensgeld. Und sein Reisegeld. Er kommt im Sommer aus Minsk ins Schtetl zurück. Es wird gemunkelt, dass er selbst in der Synagoge noch auf irgendwelche Fetzen kritzle. Er zeichnet den Rebbe im Gebet, dessen Söhne ihm wild und wütend, mit heftigen Handbewegungen drohen. Kaum steht er wieder auf der Straße, ruft einer von ihnen, der Metzger, den Jungen herein zu sich, führt ihn in den Hinterraum seines Ladens. Plötzlich fährt er ihm mit einem Arm um den Nacken, reißt den Hals herunter, presst ihn, dass er fast erstickt, drückt ihn seitlich gegen seinen Bauch, während er mit dem Lederriemen in der andern Hand auf seinen Rücken schlägt, seinen Hintern, gegen die Beine, das rote Gesicht steckt fest unterm Arm. Er sieht die blutverschmierte Schürze des Schächters und die toten, tropfenden Tiere an den Haken hängen und hält sich für eines von ihnen. Wird der zornige Metzger auch ihn schlachten? Er möchte schreien und kann es nicht:
Ich will nicht in meinem eigenen Blut ertrinken!
Noch jetzt im Leichenwagen spürt er den Würgegriff um den Hals. Dann lässt der Arm ihn plötzlich los, er sinkt auf den Boden. Er stellt sich tot. Er wird es lernen, eine lebendige Leiche zu sein. Der Metzger hebt ihn mit groben Bewegungen auf und wirft ihn in den staubigen Hof hinaus. Seine Brüder finden ihn, tragen ihn wie einen Sack nach Hause. Dann spuckt er tagelang den roten Saft, die blauen Flecke sind nicht zu zählen. Diesmal sind sie zu weit gegangen. Seine Mutter beklagt sich bitter auf dem Kommissariat, oh, Sarah hat plötzlich eine Stimme. Dort schicken sie die Frau weg, der hohe Zar hat damit nichts zu schaffen, irgendeine banale Geschichte unter den Jidden, soll das von ihnen bestimmte Schiedsgericht über die Übeltat entscheiden.
Fünfundzwanzig Rubel Entschädigung und Schmerzensgeld, verstehen Sie? Und hier auf die Hand.
Mit diesem Geld verlässt er noch vor Tagesanbruch Smilowitschi, das er nie wieder sehen wird. Es ist soweit. Kiko und er gehen nach Wilna, schon Minsk ist kein Ausweg mehr. Sie sind sechzehn und wollen nichts anderes. Kein Bilderverbot kann sie abhalten, aber das Gefühl einer uralten Schuld bleibt für immer. Sie wissen, dass sie Unrecht tun. Es ist eine Befreiung, aber nicht von der Scham. Er wird sie noch nach Paris tragen.
Sie nähern sich der Welthauptstadt der Malerei mit jedem kleinen Schritt, den sie 1910 durch Wilnas Gassen tun, als sie die Kunstakademie in der Universitetskaja besuchen. Drei Jahre lang. Dort treffen sie den Dritten im Bund. Er heißt Pinchus Kremen, kommt aus Saludok mit seinem immer traurigen Gesicht. Sie sind stolz auf ihre Studentenuniformen, sie geben ihnen schon jetzt eine ungeheure Bedeutung. Die hinkende Vermieterin, Witwe eines Eisenbahners, nimmt zehn Kopeken das Bett im Zimmer für sechs Studenten. Der Unterricht bei Professor Rybakow ist sterbenslangweilig, nur Ablenkung vom wirklichen Weg, aber sie üben um die Wette für die Stadt, die drei Maler mit offenen Armen empfangen würde. Paris wartet doch schon, sie wissen es. Paris ist ungeduldig, sie endlich zu sehen. Sie malen alles, was sie um sich sehen, Hundekadaver, elende Höfe, Begräbnisse, faltige, zitternde Gesichter und ringende Hände alter Krämerinnen.
Spiel eine Leiche, sagt er selber zu Kiko, der sich auf den Boden legt. Dann deckt er ihn mit einem Laken zu und umgibt ihn mit Kerzen. Tu so, als ob du tot wärst. Aber der Tod lässt sich noch nicht malen, es ist zu früh. Es ist gut, früh mit dem Üben zu beginnen. Den Tod kannst du nicht malen. Er lässt sich nicht, verstehst du. Versuch es später, mit Hasen, Fasanen, Truthähnen. Versuch ihren Tod zu malen, dann wirst du zu ihm
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