Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
finden.
Nachts schleichen sie hinaus und entdecken die von blassem Gaslicht erleuchtete Stadt. Spärliche nächtliche Milch in den Straßen von Wilna. Trotz aller verdreckten Winkel, der tiefen Pfützen, narbigen Straßen und nach Salpeter stinkenden Mauern ein Vorgeschmack der einzigen Stadt, die auf sie wartet. Jede Kopeke sparen sie für die große Fahrt. Sie retouchieren endlos Bilder bei einem Photographen. Kremen ist der erste, der fährt, es ist das Jahr 1912, und sie beneiden ihn, versprechen, bald nachzukommen. Kiko folgt ihm ein paar Monate später. Soutine ist diesmal nicht der Vorletzte.
Ihm scheint, der Leichenwagen habe abgehoben, fliege nun über Wilna, über dem Jerusalem Litauens, und er sehe durch den durchsichtigen Boden hindurch die Nabereschnaja, die Arsenalskaja, die Antokolskaja. Er sieht den Gediminasberg und das Schloss von Sigismund dem Alten tief unter sich, die Annenkirche, Peter-und-Paul und die Kapelle von Ostra Brama, das Spitze Tor, ihn schwindelt nicht, aber er wundert sich, wie gut er das alles sehen kann. Die Moses-Statue in der Kirche des heiligen Stanislaw, zu der sie sich oft geschlichen haben, um stumm vor ihr zu stehen. Und er sieht winzig klein drei Malereistudenten durch die Gassen laufen, Kiko, Krem und Chaim. Oh, der Zusammenfluss von Wilenka und Wilia, der litauischen Neris!
Und schließlich der unvergessliche Moment, als ihm Doktor Rafelkes, bei dem die armen Studenten am Freitagabend essen dürfen, das Reisegeld in die Hand drückt. Sein Töchterchen hat sich für einen Besseren entschieden, sie erwidert seine scheuen Blicke nicht mehr. Der gierige Esser, der keine Manieren kennt und immerzu bedrückend schweigt am Tisch, muss sanft entfernt werden. Sein russischer Pass wird in Wilna ausgestellt, am 20. März 1913, nach dem julianischen Kalender. Später streichelt er ihn immer wieder wie eine schlaue schwarze Katze.
Ma-Be, wohin fahren wir? Nach Himbeerstadt? Paderborn? Nach Smilowitschi? Lass uns umkehren. Nicht dorthin.
Er bewegt sein Handgelenk, schwenkt es in den leeren Raum.
Besser nach Chinon zurück, zu Lannegrace, irgendwohin zurück, nur nicht dorthin. Nicht zum Ort der Geburt. Kein Weg führt dorthin zurück. Es gibt uns dort nicht mehr, nicht einmal in der Erinnerung. Niemand wartet dort auf keinen.
Ein Bienenstock in der Mitte der Welt
Wie gut er alles sehen kann. Er fliegt noch immer, sieht tief unter sich ein Gesicht, das sich an das Zugsfenster drückt. Es ist sein Gesicht. Er sieht die Augen, die die unbekannten, vom zurückfliegenden Rauch der Lokomotive geränderten Landschaften gierig einsaugen. Er ist noch einmal zwanzig. Er hat Wilna im Frühjahr 1913 endlich verlassen. Er reist hinab in seinem neunundvierzigjährigen Leben, ist zwei Tage und zwei Nächte unterwegs, starrt auf die Lichter, die draußen vorübertanzen. Niegesehene Landschaften. Die Bänke sind hart, es riecht nach ranzigem Schweiß und scharfem Urin aus dem Abort nebenan, aber die zitternde Erwartung, dass alles neu beginnen würde, dass die Reise endlich dorthin führt, wo ihn die größten Wunder empfangen würden, beschwingt ihn.
Er ist hungrig wie nie zuvor. Die paar Brotkrusten des Proviants, der Hering im Zeitungspapier, die Salzgurken sind rasch verschlungen. Er drückt Krems Brief in seiner Hand, liest ihn wieder und wieder.
Wir leben hier sehr ärmlich, aber viele sprechen Russisch, Jiddisch oder Polnisch, du wirst dich nicht verloren fühlen. Es gibt keine Kosaken hier, sie werden uns in Ruhe lassen. Wir werden malen! Der lottrige Palast, in dem wir wohnen, ist wunderbar und heißt
La Ruche
.
Er kommt noch einmal in Paris an, 1913, er ist wieder zwanzig. Er reist im Bienenstock seiner Erinnerung hinauf in seine Ankunft in der Welthauptstadt der Malerei. Kowno, Berlin, Brüssel, hastiges Umsteigen wie im Halbschlaf, nur das Ziel zählt. Als er im Nordbahnhof ankommt, fällt er aus dem Zug wie aus zwei Hälften einer Eierschale. Um ihn nur die von neuen Wörtern schwirrende Welt, die Paris heißt. Er macht sich sofort auf den Weg, spricht Passanten an und stammelt
La Russe
, zeigt auf Krems Brief und wird unter die Erde geschickt. Dort sind endlose Gänge eines sauer riechenden Labyrinths, und er beschließt, wieder ans Tageslicht hinaufzugehen und den Weg zu Fuß zu machen.
Blind vor Müdigkeit, läuft er durch die Straßen, stammelt
La Russe
, immer wieder
La Russe
. Eine verirrte Biene, die in den Bienenstock will. Zufällig trifft er auf einen Maler, der
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