Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Schrei … ich spüre ihn noch immer hier … als ich ein Kind war … zeichnete ich ein Porträt von meinem Lehrer … ich versuchte … mich von diesem Schrei zu befreien … aber vergeblich … als ich das Ochsengerippe malte … war es noch immer derselbe Schrei … von dem ich mich befreien wollte … es ist mir bis heute nicht gelungen …
Er denkt, der Himmel müsse schwarz werden, jetzt gleich, der Namenlose würde Blitze schleudern, um die Klinge aufzuhalten, die durch den Hals der Gans fährt, mit der raschen, lange geübten Bewegung durch das Fleisch, die knackenden Wirbel, die zähen Muskeln. Er wird jetzt gleich in Abrahams Arm fallen, der schon ausgeholt hat, um seinen Sohn Isaak zu töten. Aber nichts geschieht.
Alles bleibt ruhig an jenem hellen Nachmittag in Smilowitschi, und der Schächter sieht ihn nur fröhlich lachend an. Der blinde Schrecken auf dem Kindergesicht bringt ihn zum Lachen. Es ist, als ob der Namenlose selber lacht über die getötete Gans, lacht über alle Klingen, die durch Hälse fahren, und über das warme Blut, das als Sturzbach auf den Boden spritzt und sich himbeerrot mit den Staubkörnern vermischt. Er rennt aus dem Hof und versteckt sich im Keller. Er bleibt lange dort unten aus Angst vor dem Lachen, vor der Klinge, vor dem Blut, das aus dem Hals der Gans jetzt auf ihn niedertropft und regnet und allmählich den Keller füllt wie das Lachen Gottes.
Der Morgen des Versöhnungsfestes Jom Kippur. Das Ritual der Vergebung, das vom Sündenbock kommt, den man verscheuchte, in die Wüste trieb, beladen mit allen Sünden, die in der Gemeinschaft begangen wurden. Ein Hahn muss ausgeblutet werden auf der Schwelle des Hauses, das so von allem Schlechten gereinigt wird. Der Schojchet hält den weißen Hahn in der ausgestreckten Hand, den Kopf nach unten, über der Schwelle. Dann ein scharfer Schnitt, das zuckende letzte Flügelschlagen. Die Kinder stehen mit aufgerissenen Augen daneben. Als er später in Le Blanc einen Fasan im menschengroßen Backsteinkamin aufhängt, um ihn zu malen, ist es immer das Versöhnungsfest, das nicht vergessen werden will. Aber es bringt keine Erleichterung.
Schon früh zeichnet er, jeder Fetzen Papier ist eine neue Versuchung, er macht rasche Skizzen, wenn er allein ist, den Blick immer wieder ängstlich auf die Tür gerichtet, ob nicht plötzlich jemand eintritt, ihm den Fetzen aus der Hand reißt und ihn verprügelt. Er bemalt die Wände der Kellertreppe mit Holzkohle. Auch dafür gibt es Schläge. Die großen Brüder rufen ihm nachts, wenn er schon halb schläft, in die Ohren:
Wir sollen nicht! Verstehst du das nicht? Es darf nicht sein.
Und zerren an seinen Ohren und reißen ihm die Decke herunter. Sie stecken ihm Brennesseln ins Bett, damit er das Zeichnen lässt. Sie wecken ihn und ohrfeigen ihn auch nachts.
Er stiehlt ein Messer aus Sarahs Küche, verkauft es draußen auf dem Markt, gibt das Geld für einen Farbstift her. Er wird für zwei Tage in den Keller gesperrt, ohne Wasser und Brot. Zwei Tage ohne Licht. Um ihm die Farbe auszutreiben. Er läuft in den Wald, um ihren Vorwürfen zu entkommen, versteckt sich, bis ihn der Hunger nach Hause treibt. Wieder setzt es Schläge, wenn er zurückkommt, es ist das alte Prügelritual, Rücken und Hintern schmerzen, aber er sitzt endlich an einem Tisch und bekommt schwarzes Brot, das er liebt, und einen Krug Wasser, den er gierig wie ein Tier ausschlürft. Woher stammt die Narbe, Doktor Bog? Die Narbe auf der Brust stammt von einem Besenstiel, den ihm der älteste Bruder gegen die Brust stieß, so dass er nach hinten fiel.
Er schwänzt oft den Cheder, läuft in den Wald und nimmt einen kurzen Föhrenast, zeichnet mit ihm in den sandigen Waldboden, zeichnet rasch ein Gesicht, streicht es durch, dann das nächste. Er legt sich auf den Boden, liegt stundenlang da, schaut zum Himmel hinauf, die schwarzen Spitzen der Bäume winken von links und von rechts und von oben. Es gibt keine Ordnung an diesem Himmel. Liegst du auf dem Rücken und schaust in den Himmel, treibt alles hinauf, die Schwerkraft gibt es nicht mehr, alles fährt nach oben, und die windbewegten Äste tanzen dazu. Seine Augen fahren mit nach oben. Sie finden nur schwer einen Rückweg.
Es ist wie ein Gebet für die Brüder, sie glauben, dem Namenlosen zu gefallen, wenn sie ihn schlagen. Du sollst dir kein Bildnis machen! Sie wollen diesen Durst aus ihm herausprügeln. Aber er kann schon nicht mehr aufhören. Der Vater läuft zum Rebbe, was
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