Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
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farbn
.
Soutine murmelt etwas, was sich wie ein Schmatzen der Lippen am Tassenrand anhört. Er befindet sich lauschend im stummen Selbstgespräch. Schweigen ist Milchkaffee. Es beruhigt die Magengeschwüre. Er hat kaum die Hälfte verstanden. Aber
couleur
und
douleur
kapiert er sofort, als seien es Signale nur für ihn. Farben und Schmerzen sind Schwestern, ja gewiss. Sie sind unheilbar, selbst wenn aus Farben schließlich Narben werden.
Nein, die Farbe hatte beides zugleich zu verkörpern, den pochenden Schmerz und die bleibende Narbe. Und zuletzt das Sterben. Alles hinterlässt Narben, verstehen Sie, sichtbare Spuren. Alles. Den makellosen Körper mag es bei griechischen Statuen geben, im alten Ägypten oder bei Modigliani. Für Soutine gibt es keinen makellosen Körper, nur versehrte, knotige, geschundene Leiber. Nichts im Leben ist heil geblieben, nichts ist wiedergutzumachen. Das sind die einzigen Prinzipien, die er akzeptieren will. Er lässt die Farben sich aneinander reiben, schürfen, sich verehren, verdammen und verfluchen, erhöhen und niederstrecken, bis sie stammelnd ihr vernarbtes Glück hergeben.
Der Maler will sich jetzt endlich, gegen seine Gewohnheit verbissenen Schweigens, nach rechts drehen und sich den dreien mit einem erstaunten Zuruf zuwenden, doch es ist schon zu spät. Plötzlich ist das Gespräch aufgelöst, der Brief des Rückkehrers eingesteckt, die drei Männer erheben sich und setzen ihre Hüte auf.
Wo mögen sie jetzt sein? Er hat keine Ahnung. Wie kann er das wissen. Er legt schmerzhaft langsam den Kopf in den Nacken, glaubt für einen Augenblick, noch immer im Leichenwagen dahinzurollen, und will den beiden Fahrern zuraunen:
Könnt ihr die drei nicht zurückrufen? Können sie sich nicht noch einmal setzen? Ich habe nicht einmal die Hälfte verstanden. Zuviel Lärm hier, zuviel Gläserklirren.
Doch seine Zunge ist nicht an ihrem Ort, sie ist nicht zu heben, nicht zu senken. Wenn es überhaupt noch eine Zunge gibt. Kein Flüstern dringt mehr aus der Mitte der Welt hierher. Montparnasse ist verstummt. Und auch an ihrem Rand bleibt es stumm und still und fährt zur Operation nach Paris.
Soutine murmelt im Selbstgespräch vor sich hin. Er ist soeben in der Mitte der Welt gewesen. Er liegt unter seinem weißen Laken und merkt nicht, dass er beobachtet wird. Es gibt eine Luke in der weißen Tür und eine Klappe, die von außen hochgeschoben werden kann. Dort wartet ein Augenpaar, beobachtet ihn schon eine ganze Weile. Leise wird die Klappe heruntergelassen, und die Öffnung in der Tür schließt sich. Er ist wieder ganz und gar allein in seinem weißen Paradies.
Der unsichtbare Maler
Bei einer von seinen Fahrten in die Hauptstadt, als seine Füße ihn fast automatisch zur Kreuzung von Boulevard Raspail und Boulevard Montparnasse lenken, gleich gegenüber der Rotonde, läuft ihm einer entgegen, erkennt ihn und zischt ihm zu:
A mentsch on glick is a tojter mentsch!
Soutine, was machst du hier noch, bist du verrückt geworden? Verschwinde, die Gestapo hat schon Dutzende Maler eingepackt. Hier wimmelt es von Spitzeln. Wie kannst du noch herkommen?
A glick ahf dir!
Und er spuckt auf den Gehsteig, es ist wie ein verschlüsselter Gruß. Und Soutine dreht sich auf dem Absatz, geht ohne zu hasten davon, den großen, dunkelblauen Hut noch tiefer ins Gesicht gezogen, den Kopf zwischen die Schultern gedrückt. Nur Seitenstraßen benutzen.
Die Hüte von Barclay! Soutine liebt sie, seit der Pharmazeut Barnes mit seinen Dollars Zbo und ihn vom Hungerleiden kuriert hat. Der vornehme blaue Hut ist eine Tarnkappe, er ist überzeugt, dass er ihn unsichtbar macht. Früher war alles anders. Als Zbo dem abgerissenen Maler nahelegte, einen Hut zu tragen, um vor der Kundschaft seriöser aufzutreten, brummte er:
Ich kann nicht jeden Tag herumgehen wie der Zar!
Er weiß, dass er unsichtbar ist bei diesen gefährlichen Fahrten nach Paris. Der Untergetauchte geht zügig zum Arzt, presst seine falschen Papiere in der Manteltasche, und dann ab zur geheimen Unterkunft. Abergläubisch meidet er fortan die großen Kreuzungen, wo die Besatzer ihre Wegweisermasten aufgestellt haben und die Stadt mit deutschen Wortungetümen vollpflanzen, um das Territorium der Hauptstadt mit ihrer Sprache zu besetzen. Die Schilder versprühen die herrische Phonetik einer konsonantischen Macht, einen schwarzen, einschüchternden Fluch.
Und um den 16. Stadtbezirk macht er einen Bogen,
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