Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
dort haben die Besatzer viele Gebäude requiriert, das Hôtel Majestic in der Avenue Kléber, Sitz des Militärbefehlshabers, und die prächtigen Haussmann-Burgen an der Avenue Foch, wo SIPO und SD residieren, und an der Rue Lauriston die Gestapo. Die Pariser bekommen es rasch zu spüren, wer sich wo einquartiert hat. In der Avenue Foch sitzen die SS-Häuptlinge, Oberg, der Schlächter von Paris, zuständig für Geiselerschießungen und Deportationen, Lischka, SS-Obersturmbannführer und Kommandeur SIPO-SD, und Doktor Knochen. Doktor Knochen? Ja. Befehlshaber Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst. Doktor Knochen? Ja, zuständig für …
Er geht nicht mehr zu den Laloës, um sie nicht zu gefährden. Der misstrauische Concierge schaut ihm noch in den Träumen unverwandt ins Gesicht. Der Hut war jetzt eine Notwendigkeit. Er geht zu Marie-Berthes Vater in die Rue Littré im sechsten Bezirk, eine Nebenstraße der Rue de Rennes, aber über Umwege, ohne sich den Cafés zu nähern, wo ihn jemand hätte erkennen, ihn mit einem Zuruf hätte verraten können.
Der alte Aurenche, Steuerbeamter im Ruhestand, ist unauffälliger als die Maler. Er öffnet leise die Tür, sagt nichts, nickt und weist dem Maler mürrisch das Sofa an.
Sie sprechen kein Wort miteinander. Die Bekanntschaften seiner Tochter waren ihm schon immer suspekt. Kaum hat der Unsichtbare den Arztbesuch hinter sich gebracht, schleicht er am nächsten Morgen zum Bahnhof Montparnasse und besteigt den Zug Richtung Tours. Paris war nichts als Arztbesuch und Nachschub an Papaverin und Bismutpulver.
Seit dem 20. Oktober 40 ist auch er in der Tulard-Kartei als
Juif
registriert. Er trägt die Nummer 35702. Als er mit seiner Karte aus der Unterpräfektur seines Bezirks herauskommt, macht er sich lustig über den verrutschten Stempel auf seinem Lichtbild und sagt zu Chana Orloff:
Sie haben mir meinen Juden beschädigt.
Den gelben Stern trägt er nie. Oder ist auch sein Stern unsichtbar? Ab dem 7. Juni 42 muss das Abzeichen fest aufgenäht und sichtbar getragen werden, bei Unterlassung droht die Inhaftierung. Die Empfänger müssen dafür einen Punkt von ihrer Kleiderkarte abliefern. Im Reich hatten die Juden für ihren Stern keinen Punkt der Kleiderkarte abzuführen. Sie hatten keine Kleiderkarte. Und bald beginnt das Einsammeln der Sterne, die Razzien folgen sich in immer kürzeren Abständen. Dann die Überführung nach Drancy oder Pithiviers, Compiègne oder Beaune-la-Rolande, die Transitlager um Paris. Das Befestigen mit einer Sicherheitsnadel oder Druckknöpfen ist verboten. Annähen, unabreißbar, einnähen, womöglich in die Haut.
Er war von allem Anfang an entschlossen, ihn nicht zu tragen. Der Maler Chaim Soutine ist für immer unsichtbar unter seinem Hut. Und sein Stern ebenso.
Einmal erschrickt er, als eine Frau taumelnd aus einer Toreinfahrt auf die Straße läuft, ihr Gesicht in ein großes weißes Taschentuch gepresst. Es muss nach Juli 42 gewesen sein, in der Kaskade der Massendeportationen, die »Ausländischen« kamen zuerst dran, wenig später wurden auch noch deren Kinder deportiert. Er hält auf dem Gehsteig abrupt an, die Frau steht ihm genau gegenüber, mitten auf der Straße. Er erstarrt vor Schreck, als sie sich umwendet und ihn mit »Monsieur Epstein« anspricht.
Sie schluchzt, sie spricht abgehackt, drückt immer wieder ihre Augen ins weiße Tuch. Sie ist so offensichtlich verzweifelt, dass sie nicht mehr weiß, mit wem sie spricht, oder sie ist vor Schmerz verrückt geworden. Sie hat nicht einmal auf seine linke Brust geblickt, wo nichts Aufgenähtes ist, sie hat ihn einfach angesprochen. Sie kann sich nicht zurückhalten, es bricht aus ihr hervor.
Monsieur Epstein … Was werden sie mit den Kindern tun? Wenn sie die Leute zum Arbeiten deportieren, wozu dann die Kleinen? Bitte, Monsieur Epstein, antworten Sie doch … das ist doch eine entsetzliche Unlogik, was sollen Zwei- oder Fünfjährige im Arbeitslager? Ist es nicht eine ungeheure Dummheit für ein Land, das sich im Krieg befindet, so etwas zu tun? Was bringt das für einen Nutzen? Alles ist so sinnlos, wozu soll es gut sein, Frauen und Kinder zu verhaften … Es ist unbegreiflich, Monsieur Epstein, so sagen Sie doch … ein entsetzliches Räderwerk, das uns zermahlen will, so antworten Sie doch …
Und der stumme Maler Chaim Soutine steht da wie erstarrt und blickt unter seinem dunkelblauen eleganten Hut hervor in das entsetzte, schluchzende Gesicht. Er bringt kein Wort hervor,
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