Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Montparnasse.
Wie viele Gesichter sind in diesen Cafés aufgetaucht, wie viele merkwürdige Gestalten aus Chile, Japan oder Litauen in diesen kleinen, lärmigen Tempeln, angezogen von Kaffeeduftschwaden und bitteren Säften, von Anis und Wermut. Wie viele Gespräche, wie viel Eifersucht und Racheschwüre hat er schweigend mitangehört.
An eines hat er sich immer erinnert. Er sitzt wie immer in einer Ecke, lauernd auf den spendablen Wundergast. Die Ecke bedeutet Sicherheit, keinen im Rücken zu haben, beruhigt ihn. Ein Dichter, dessen Namen er vergessen hat oder der erst noch geboren wird, empfiehlt, mit dem Kopf im Winkel zu schlafen, denn dort sei es schwieriger, mit der Axt auszuholen und den Schlafenden in Stücke zu hacken. Deshalb: Schreib den Kreis ins Quadrat. Die Federbetten- und Kehlenaufschlitzer, die auf Pferdefuhrwerken aus Minsk herüberkamen, haben bei ihren Opfern erstaunliche Reflexe hervorgerufen. Tierische Fluchtinstinkte, blitzend rasche Blicke aus eingekniffenen Augenwinkeln, Sprungkraft (spring aus dem Fenster, so hast du eine Chance!), Wendigkeit, Hakenschlagen, die göttliche Kunst der Hasen.
Der Schweigsame hört mehr, weil seine Stimme keinen übertönen muss. Der Schweiger ist ganz Ohr. Sein Ort ist der Rand der Mitte der Welt. Plötzlich kamen drei herein, sahen sich um, suchten einen Augenblick lang nach dem richtigen Platz und setzten sich an den Nebentisch.
Der Maler versucht zu verstehen, worüber sie sprechen. Sie sprechen einmal Französisch, dann wieder Deutsch. Sein Jiddisch reicht manchmal, um ein paar Wörter zu verstehen. Hatte nicht in Wilna ein Spaßvogel gesagt, das Deutsche stamme in Wahrheit vom Jiddischen ab? Einer muss ein Franzose sein, die andern beiden kommen vielleicht aus dem untergegangenen österreich-ungarischen Kaiserreich, aus Galizien, aus der Bukowina?
Die Kellner flattern heran und vorbei wie Schmetterlinge, klirren mit ihren Gläsern und Tassen, rufen über die Köpfe hinweg ihre herrischen Befehle, die der Mann hinter der Theke schweigend und gehorsam aufnimmt. Der Maler hat nur Ohren für das Gespräch am Nebentisch, aus dem er das wiederkehrende Wort »Farben« aufschnappt. Es geht um irgendeinen Zusammenhang von Farben und Schmerzen. Der Mann mit dem einheimischen Akzent ruft aus: Wunderbar! Im Französischen liegen Farbe und Schmerz so nahe beieinander. Und mehrmals dreht er sein Fundstück im Mund.
Hören Sie nur:
couleur
und
douleur
.
Es geht um irgendeinen Brief, der wohl auf Deutsch geschrieben ist, und den der Einheimische ins Französische übersetzen soll. Den Brief eines Exilanten oder eines Rückkehrers. Offenbar dreht sich der Brief um einen bestimmten Maler, und gern hätte er erfahren, um welchen. Maler sind neugierige und eifersüchtige Lebewesen, weil es für sie nur einen in jeder Generation gibt. Vor den Alten darf man sich verneigen, Rembrandt oder Courbet oder Chardin darf man anbeten, aber unter den Lebenden ist jedes Wort über einen andern zu viel.
Weder den Autor des Briefes kann er heraushören, nur irgendein »Tal« war da, narrt ihn immer wieder, noch den Maler, dessen Name vielleicht gar nicht fiel. Einer der Deutschsprechenden liest einen Satz vor:
Warum sollten nicht die Farben Brüder der Schmerzen sein, da diese wie jene uns ins Ewige ziehen?
Der Mann mit dem französischen Akzent schlägt vor, aus den Brüdern Schwestern zu machen:
Et pourquoi les couleurs ne seraient-elles pas les sœurs des douleurs, puisque l’une et l’autre nous attirent dans l’éternel?
Dann fällt ein Glas scheppernd zu Boden, ein heftiger Fluch läuft durch die plötzliche sekundenlange Stille, der Gesprächsfaden reißt kurz ab, und der Maler muss sich konzentrieren, um noch irgend etwas aus dem leiser werdenden Gespräch aufzuschnappen. So sprecht doch lauter! will Soutine noch jetzt in den weißen Laken rufen, doch seine Zunge ist nicht da.
Wenn im Französischen
couleur
und
douleur
, Farbe und Schmerz, so nah beieinander liegen, wirft einer von den dreien ein, was meinen Sie zur merkwürdigen Nachbarschaft von
Farben
und
Narben
im Deutschen? Sind die farbigen Wunden in der einen Sprache schmerzhaft offenbar und gegenwärtig, durchpulsen die Haut und das sprachliche Gewebe, so zeugen sie in der andern von gewesenen Verletzungen, von geschlossenen Wunden, von der späten Erinnerung an den Schmerz.
Der Maler zuckt auf. Denn in seiner Sprache reimen sich die Farben noch mit einem andern Wort.
Wi an ofene wund … Los mich nit asoj
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