Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
macht einen langsamen Schritt rückwärts, um seine Flucht anzutreten.
Wenn die Frau ihn als einen erkannte, der eigentlich auf seiner linken Brust das gezackte Abzeichen tragen sollte, wie konnte er dann an irgendeinem Besatzer vorübergehen? Seine Unsichtbarkeit hatte die Frau plötzlich in Frage gestellt. Er ist auf dem Gehsteig unvermutet sichtbar geworden, als Monsieur Epstein zwar, doch immerhin sichtbar. Erschütternd sichtbar.
Am Ende der Schwanenallee, stromaufwärts, auf dem linken Seine-Ufer, ragte das
Vélodrome d’Hiver
auf, am Boulevard de Grenelle, unweit des Eiffelturms. Früher hatte er hier zu seinem Sonntagsvergnügen Catch- und Boxkämpfe gesehen. Jetzt war die Winterradrennbahn zum Stadtpferch für die Opfer der Massenverhaftungen verkommen, zu einem riesigen dunklen Strudel, in den sie wahllos geworfen wurden, um in einem unaussprechbaren Ort in Polen mehr tot als lebendig aus dem Waggon zu fallen. In der Razzia vom 16. und 17. Juli 42 trieb die Pariser Polizei, beordert durch Leguay, den Delegierten des Vichy-Polizeichefs Bousquet, die verhafteten Juden wie Vieh zusammen.
Der Maler muss an Kikos begeisterten Ausruf denken, es war 1913, er war gerade erst angekommen in der Stadt seiner Träume:
Hier gibt es keine Kosaken. Keinen plündernden Mob. Irgendwann werden die Pogrome aus unsern Träumen verschwinden. Aber dieser Abend wird uns für immer gehören. Nie wird es in dieser Stadt Pogrome geben, verstehst du …
Diesmal sprachen die Kosaken französisch, durch das Zirkular Nr. 173-43 der Polizeipräfektur wurde die Verhaftung der ausländischen Juden angeordnet. Allein aus Paris über dreizehntausend Menschen. Die Hälfte wird mit requirierten städtischen Bussen sofort ins Lager Drancy nördlich von Paris verfrachtet, die andern werden in die Radrennbahn gepfercht. Viele aber blieben bei der großen Razzia unauffindbar. Unter ihnen ein unsichtbarer Maler. Seitdem Mademoiselle Garde zwei Jahre zuvor dorthin gegangen war und nie mehr wiederkam, wollte er keinerlei Anordnungen mehr befolgen, nirgendwo seine Registrierung von Oktober 40 erneuern lassen. Im Stadion mit dem winterlichen Namen verschwand man ins Nichts, in einen ewigen Winter. Aus dem Pferch führte ein direkter Weg in den Tod.
Untertauchen, keucht er im Leichenwagen, sich ein Schlupfloch suchen. Untertauchen, jetzt, sofort. Die Schwarzhunderter sind unterwegs, hört ihr, Kinder, rasch in den Wald, nichts mitnehmen, versteckt euch, lasst alles liegen, sie kommen auf Pferdefuhrwerken aus Minsk herüber … lauft, so schnell ihr könnt … Kiko … die Kosaken … hörst du …
Er weiß nicht mehr, wann er zuletzt das Velodrom gesehen hat. Hat er nach dem 17. Juli 42 tatsächlich noch auf der Grenelle-Brücke gestanden, hat auf die Radrennbahn und die Schwanenallee, die nadelartige Insel in der Seine, hinübergeblickt? Oder hat er nur sein Auge hingeschickt, also seine Seele? Die Gerüchte liefen rasend durch die Stadt. Und er hasste sich dafür, dass er sich das furchtbare Geschehen in der Winterradrennbahn nicht vorstellen konnte. Nie würde er es malen können. Es überstieg seine Kraft.
Siebentausend Menschen drängen sich auf den Rängen der Rennbahn zusammen, schreiend, herumirrend, viele in Panik um sich schlagend, andere apathisch vor Hunger und Durst. Unten, in der Mitte des Velodroms, ein Rotkreuzzelt, ein einziger Arzt und zwei Schwestern. Gebärende, Sterbende, Fiebernde. Fünf Tage ohne Nahrung, ein einziger Wasserschlauch wird hart umdrängt. Die Sanitäranlage ist verstopft und unbenutzbar, von den Rängen rinnt Kot und Urin auf die Liegenden. Die scharfen Befehle der Wachmannschaft, die diesmal französisch spricht. Ein zitternder Greis erhebt sich, ruft mit letzter Kraft:
Das ist ein großes Missverständnis!
Vive la République!
Und sackt zusammen. Keine Luftzufuhr, ein Ort zum Ersticken, voller Stroh, Angst und Stöhnen. Die Juli-Hitze, der Schweiß der Eingepferchten. Beißender Geruch. Herzen stehen plötzlich still, es werden bis zum Abend des 17. Juli hundert Selbstmorde gezählt. Und sie sollten recht behalten – von dort führte nur
ein
Weg hinaus. Ja, er hasste sich dafür, dass er es sich nicht vorstellen konnte. Er hatte von Familien gehört, die sich aus dem Fenster stürzten, um der Deportation zu entgehen. Und eine Frau, wahnsinnig vor Kummer, warf ihre vier Kinder aus dem Fenster. In Smilowitschi lebt schon keine Seele mehr.
Die Eingepferchten standen oft in seinen Träumen vor ihm,
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