Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
schauten ihn fragend an, schienen von ihm etwas zu erwarten. Er war für sie nicht unsichtbar. Aber er blieb außerhalb, der Strudel hatte ihn nicht verschluckt. Jetzt, wo er im
Corbillard
nach Paris unterwegs war, flüsterte ihm das Morphin ein, er sei tatsächlich dort gewesen, ja, ganz gewiss, er hatte alles gesehen, er könnte es beschwören.
Die Brücke schien zu schwimmen, die Schwanenallee, alles war in Bewegung geraten. Schwäne sind keine mehr zu sehen, sie sind in der besetzten Stadt längst eingefangen und aufgefressen worden. Alle Schwäne haben die Stadt auf diesem Weg verlassen. Aber einmal sah er dort schwarze, verkohlte Vögel. Schwirrende Flügel, die besetzte Luft über der Seine aufwühlend. Als er sie zum Himmel aufsteigen sah, wurde vor seinen Augen das Velodrom in die Luft gesprengt. Es war wenige Jahre vor seiner Ankunft gebaut worden, die Pariser Arbeiter waren verrückt nach den Radrennen, strömten massenhaft dorthin.
Sein Auge sah es jetzt in die Luft gehen, es war in der Zukunft, lange nach seinem Tod, weggesprengt mit allen Balken und Bohlen, die Blut und Urin getrunken hatten. Die Trümmerteile werden durch die Luft gewirbelt, die Eisenarmierungen ragen auf wie das zerfetzte Skelett eines riesigen Untiers. Weggesprengt. In diesem Moment hätte er es malen können. Eine geborstene Landschaft.
Er ist mit Ma-Be untergetaucht. Er hat sich unsichtbar gemacht. Er ist in Champigny. Er ist in den Pyrenäen mit seinem Mohnsaft. Er ist unter seinem blauen Hut. In Himbeerstadt, nicht fern von Smilowitschi. Am Passage d’Enfer. In Kremenkikominsk.
A glick hot dir getrofen! A leben ahf dir!
Kaum beginnt der Mohnsaft zu wirken, fühlt er sich anschwellen, sich dehnen wie auf dem grotesken Selbstporträt von 1922, auf dem er nichts war als riesenhafte Lippen, ein gewaltig verformtes Ohr und ein aufgebauschtes Schulterstück. Er war auch jetzt unsichtbar unter seinem unsichtbaren blauen Hut.
In der deutschen Botschaft an der Rue de Lille, wo Abetz residiert, hat es derweil Neuigkeiten gegeben. Die Personalien der Verhafteten sind anhand der Tulard-Kartei überprüft worden. Der Maler Chaim Soutine ist nicht unter der Beute des 16. und 17. Juli 42. Zwei Wochen nach den Massenverhaftungen und dem Inferno in der Radrennbahn ist er noch immer unauffindbar. Es wird Zeit für eine besondere Operation, Monsieur Soutine. Ein Suchbefehl verlässt die Rue de Lille.
Deutsche Botschaft Paris. 30. Juli 42. Nr. 305/43 g. GEHEIM. An den Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD z.Hd. von Obersturmführer RÖTHKE Paris 72, Avenue Foch. Betr. Maßnahmen im Falle des jüdischen Künstlers Soutine. In der oben bezeichneten Angelegenheit möchte ich unser Ferngespräch vom Dienstag den 28. bestätigen. Wie Sie wissen kommen die Anweisungen direkt vom pers. Adjudant des Herrn Reichsmarschall H. Göring. Erstens sind die französischen Stellen zu benachrichtigen, d.h. der Commissaire aux questions juives und der Polizeipräfekt. Es wird um aktive Mitarbeit gebeten. Aufgrund höchster Geheimhaltung sollen jedoch die Einzelheiten mit den franz. Behörden nicht besprochen werden. Zweitens sind alle Werke des Juden Soutine, die während der Untersuchungen gefunden werden zu beschlagnahmen und sofort nach Berlin zu versenden. Für eine baldige Erledigung wäre ich dankbar.
Im Auftrag Achenbach
Eine silberne Uniform beugt sich über die Schulter der Schreibkraft und erklärt barsch: Mit T bitte, kein D. Einer erinnert sich an seine glänzenden Lateinstunden daheim im Reich. Adiuvare. Adiuvo, adiuvi, adiutum. Verdammt nochmal, ich weiß es noch. Helfen, unterstützen, beistehen. Adiutor, also Adjutant. Und er bläht seine Brust.
Der Sekretär hat so viele einschlägige Anordnungen niedergeschrieben, dass sich die Gejagten heimtückisch noch in seine Schreibung einschleichen: »Adjudant« steht da, tatsächlich, mit dem Juden in der Mitte, in die Zange genommen von Ad und Ant. Nicht einmal ihre Schreiberei können sie in Ruhe lassen, sie schleichen sich in die Wörter ein und zersetzen sie von innen. Der persönliche Adjudant beschattet den Reichsmarschall Göring. Dann kommt ein dringender Anruf angeschellt, und das D bleibt, wo es ist.
Und genau dieser Jude mit D in der Mitte, der sich in die Wörter schleicht und von dort aus mithorcht, hat einen Informanten bei der französischen Polizei. Nennen wir ihn Armand Merle. Warum nicht? Merle ist die Amsel, und die singt so schön. Denn nun beginnen die französischen
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